Während meiner Tantralehrer-Ausbildung gehörte es zum Curriculum, alle Heilmassagen der BeFree-Schule zu lernen und natürlich auch zu lehren. Dazu gehören die Tantrische Ganzkörpermassage, die Brust-Massage, die Yoni-, Lingam- und Anus-Massage.
Nach meinen ersten Erfahrungen mit gleichgeschlechtlichen Berührungen („Ich bin doch nicht schwul!“) glaubte ich mich schon etwas offener im Umgang mit Genitalberührungen. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, dass es schwierig werden könnte, für meine Praxis ausreichend berührungswillige Modelle zu finden.
Glücklicherweise fand ich Unterstützung durch meine Mitauszubildende Michaela, in deren Bekannten- und Freundeskreis sich einige homosexuelle Männer befinden. Es machte ihr sichtlich Spaß, mich in meiner Suche nach Modellen zu unterstützen – ja, mir sogar eine Herausforderung zu bieten in der Form, dass sie mir innerhalb einer Woche ein halbes Dutzend Termine zum Üben der Lingam-Massage organisierte.
Abschied von Vorurteilen
Ich erinnere mich noch, in meinen Anfangszwanzigern Teil einer Gruppe von Männern und Frauen gewesen zu sein, die sich regelmäßig zum Stammtisch trafen. Unter ihnen war auch ein homosexueller Mann und ich war damals schon beeindruckt, wie selbstverständlich integriert er in diesen Freundeskreis war. Und ich kann mich erinnern, dass ich seinerzeit noch Vorbehalte verspürte, ihn körperlich zu berühren, so als wäre Homosexualität ansteckend. Berührungen mit den anderen Männern in diesem Kreis waren „unkritisch“, da sie sich auch meist auf Knuffen oder Schulterklopfen beschränkten.
Nun stand ich also mit einem zugegebenermaßen zwiespältigen Gefühl am Beginn einer Woche voller Termine mit Lingam-Massagen für meist schwule oder wenigstens bisexuelle Männer. Vermutlich habe ich mich zumindest beim ersten Termin noch ziemlich ungeschickt angestellt. Es ist doch ein großer Unterschied, ob ich meinen eigenen Lingam berühre, oder den eines anderen Mannes. Mag er die gleichen Berührungen wie ich? Mag er es fest, oder lieber sanft? Was erregt ihn?
Meine größte Sorge war tatsächlich, dass meine Berührungen eine Erektion zur Folge haben könnten und womöglich sogar noch eine Ejakulation. Doch nichts dergleichen geschah bei meinen ersten Versuchen. Möglicherweise habe ich mich sogar richtig stümperhaft angestellt. Aus Angst etwas falsch zu machen. Aus Zurückhaltung. Mit den (unbewussten) Bedenken, wie sich mein Selbstbild ändern könnte, sollte ich Gefallen daran finden, wenn meine Berührungen an Geschlechtsgenossen sexuell-orgiastische Reaktionen auslösen.
Eine unmittelbare Folge meiner ersten Versuche, die Lingam-Massage zu lernen war, dass sich in der Tat etwas an meinem Selbstbild änderte. Etwas, das ich nicht erwartet hatte. Ich begann, mich selbst als Mensch im Körper eines Mannes mit all seinen körperlich-genitalen Eigenschaften zu erkennen, anzunehmen und im Laufe der Zeit sogar lieben zu lernen.
Der liebevolle Blick auf die männliche Sexualität
Mit der Zeit lernte ich, einen liebevollen Blick auf die sexuelle Erregung von Männern zu entwickeln (auch meine eigene). Wenngleich ich weiterhin die offenkundig sexuellen Avancen homosexueller Männer ablehnte, die meine Massagedienste (und mehr) in Anspruch nehmen wollten. Jene, bei denen der ganzheitlich-spirituelle Aspekt einer tantrischen Massage im Fokus stand, begleitete ich gerne und in Liebe auf ihrem Weg hin zu sexueller Entspannung mit gleichgeschlechtlichen Berührungen.
Auch in meinen Männergruppen bekamen die gleichgeschlechtlichen Berührungen durch meine eigenen Erfahrungen mehr Fokus. Und ich denke glücklich daran, welche intensiven Begegnungen im Kreis der Männer möglich waren, deren Diversität ihrer Zeit weit voraus war. Hetero, bisexuell, homosexuell, transsexuell – alle waren vertreten und formten eine Erfahrungsgemeinschaft, die ihresgleichen suchte.
Eigene Vorstellungen loslassen
Eine kleine Anekdote möchte ich hier noch zum Besten geben. Im Rahmen einer tantrischen Großveranstaltung trafen die Shaktis in einem Kreisritual auf die (blinden) Shivas, um deren Lingam auf verschiedene Weisen zu verehren. Da die Shaktis jedoch eine Person weniger waren als die Shivas, wurde ich gebeten, auf der Seite der Shaktis die Lingam-Verehrung zu zelebrieren. Es gab drei Begegnungen, die ich mit Liebe für die Shivas vollzog. Am Ende des Rituals standen die Shaktis in der Mitte und die Shivas entfernten die Augenbinden. Als sie meiner ansichtig wurden, kamen unvermittelt einige Shivas auf mich zu und erklärten felsenfest, dass ich bei ihnen gewesen wäre. Die drei, bei denen ich tatsächlich war, waren nicht darunter.
Den größten Einfluss auf unsere Vorstellungen und Realitätskonstruktionen von Männlichkeit und männlich-sexueller Orientierung haben meiner Meinung nach weiterhin die anachronistischen Gesellschaftsbilder patriarchaler Prägung. Diese sind immer noch fest in unserem kollektiven Unterbewusstsein verankert, genau wie die Verfolgung, Diffamierung und Ausgrenzung homo- (und trans-)sexueller Menschen durch die Gesellschaft bis hin zu Zwangs-Umerziehung und Hinrichtung.
So sehe ich gleichgeschlechtliche Begegnungen nicht nur als Sahnehäubchen tantrisch-spiritueller Praxis, sondern sogar als wesentlichen Grundbestandteil humanistischer Persönlichkeitsentwicklung. Die tantrische Praxis bietet hier reichlich Gelegenheiten, eigene Grenzen und Tabus zu erkennen und Komfortzonen zu erweitern.
Text: Klaus Peill