Westliches Tantra – Das Tantra unserer Zeit
Die tantrischen Traditionen und Linien haben sich schon immer mit der Kultur der jeweiligen Region verbunden, in der sie sich gerade ausbreiteten. Dieser Prozess findet seit Jahrzehnten auch schon im Westen statt. Wir sollten es deshalb auch so bezeichnen, was es ist: Westliches Tantra.
In den Diskussionsforen von Facebook & Co., die sich mit Tantra befassen, trifft man immer wieder auf Bemerkungen der Anhänger eines „traditionellen Tantra“ die dem „Neo-Tantra“ die Berechtigung absprechen, wirklich tantrisch zu sein. Und es gibt „tantrische Angebote“ die eigentlich eher die sexuelle Befreiung meinen.
Gibt es „das“ traditionelle Tantra überhaupt?
Die Ursprünge des Tantra sind wahrscheinlich so alt wie die menschliche Rasse. Es entwickelte sich aus frühgeschichtlichen matriarchalischen Kulturen mit einer natürlichen Verbindung von Spiritualität und Sexualität. Die Sexualkraft wurde als göttliche Lebenskraft rituell zelebriert und gefeiert. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden vor allem in Indien zahlreiche Strömungen und Traditionen des Tantra, die in den Hinduismus, in den Jainismus und schließlich auch in den späten Buddhismus des Vajrayana eindrang (z.B. tibetischer Buddhismus).
Was das Tantra auszeichnet ist, dass es kein für alle „Tantriker“ verbindliches Grundlagenwerk gibt. Es war meistenteils eine Geheimlehre, die von Gurus/Meistern an die Schüler vermittelt wurden. Jede tantrische Linie entwickelte ihre eigenen Werke, die Tantras, auf die sie sich bezogen. Manchmal so verklausuliert, dass es den Guru brauchte, um die Texte zu entschlüsseln und zu interpretieren. Und wie es Interpretationen und Kommentaren eigen ist, sind sie natürlich persönlich eingefärbt.
Wenn man von traditionellem Tantra spricht, bezieht man sich in der Regel also auf eine der vielen Strömungen und Linien, die sich inhaltlich teilweise sogar widersprechen. Ein übereinstimmendes Merkmal des traditionellen Tantra ist jedoch, dass es jeweils die Kultur der Region aufgriff, in der es sich gerade ausbreitete. Es macht ja auch wenig Sinn, Regeln und Traditionen aus kulturfernen und zeitlich weit auseinander liegenden Regionen zu übernehmen. Wohin das führt, sehen wir beim Christentum, beim Islam und beim Judentum, die kläglich damit scheitern bzw. menschenverachtend werden, wenn sie jahrhundertealte Regeln in der heutigen Zeit anwenden wollen.
Ein Beispiel aus dem Tantra ist, wenn wir im Westen Rituale wie das Panćatattva feiern, eine Kulthandlung um die fünf “m”: Madya (einen berauschenden Trank), Matsya (Fisch), Mamsa (Fleisch), Mudra (geröstetes Getreide) und Maithuna (die geschlechtliche Vereinigung) – allesamt Tabus der brahmanischen Religion. Für uns geht der Sinn weitgehend verloren, weil Alkohol, Fleisch und Sex in unserer Gesellschaft keine Tabus mehr darstellen, aus deren Übertretung Energie gezogen werden könnte (es sei denn jemand ist Vegetarier oder Anti-Alkoholiker).
Selbst in unserer Zeit sind die kulturellen Unterschiede so groß, dass Regeln und Rituale nicht einfach übertragen werden können. In einem shivaistisch-tantrischen Tempel den ich häufig auf Bali besuche, merke ich immer, wie grundverschieden die Balinesen und wir Westler mit bestimmten Symbolen umgehen. Für die Balinesen sind Shiva, Durga, Kali, Ganesha usw. wirkliche Götter, für uns Westler allenfalls Symbole für verschiedene Qualitäten.
Tantra im Westen
Erste tantrische Vorstellungen und Praktiken erreichten den Westen Anfang des vorigen Jahrhunderts. Der britische Richter John Woodroffe übersetzte unter seinen Pseudonym Arthur Avalon tantrische Texte und veröffentlichte sie in diversen Büchern. Auch okkultistische Kreise wie die Theosophische Gesellschaft, der Entwickler des gleichnamigen Tarot-Decks Aleister Crowley, Freimaurer und Rosenkreuzer übernahmen einige tantrische Ideen. Allerdings führte dies zu einem verhängnisvollen Wörtlichnehmen der Texte, statt sie vorurteilsfrei und dem Geist der Tantras gerecht werdend zu interpretieren. So entstanden viele Vorurteile, die die tiefe Symbolik außen vor ließen.
Den größten Einfluss darauf, was heute in der westlichen Welt unter Tantra verstanden wird, hatte Anfang der 1970er Jahre der indische Philosoph Bhagwan Shree Rajneesh (später „Osho“ genannt). Er propagierte unter dem Begriff Neo-Tantra eine Verbindung von Spiritualität und Sexualität als eine zeitgemäße Form von Tantra. Dabei verband er östliche und westliche Elemente mit gruppentherapeutischen Konzepten und Theorien von Wilhelm Reich. Hinzu kommen Einflüsse von Yoga, psychosomatische Ansätze und Körpertherapie. Tantra im Westen war bis zum Beginn der 2000er-Jahre fast ausschließlich vom Neotantra beeinflusst.
Tantrische Methoden sind in unserem beginnenden Jahrtausend jedoch ein immer mächtigerer Bewusstseinsfaktor. Immer mehr Menschen in der psycho-sozialen Szene begreifen, dass Tantra, wie tief auch jeweils verstanden oder durchdrungen, etwas mit Heilung, mit Therapie, mit Ganzwerdung zu tun hat, mit Überwindung der modernen Geschlechterneurose – der Trennung und Abspaltung im Bereich von Eros und Sexualität. So ist für viele Tantra schlicht eine Sexuallehre oder ein Mittel zu einer erfüllteren und schöneren Sexualität. Selbst die Rotlichtszene bedient sich mitunter des Begriffs „Tantra“.
Westliches Tantra
In den letzten Jahren gibt es immer mehr Tantralehrer und Tantraschulen, die ein westliches Tantra entwickeln, dass sich zunehmend vom Neotantra Oshos abnabelt. Es gibt dabei (noch) keine einheitlichen Konzepte sondern gemeinsame Ansätze, die die Lehren des traditionellen Tantra mit westlicher Kultur und Therapieformen verknüpft. Eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung bei der Körper, Verstand und Spirit gewürdigt werden.
Ich bin der Überzeugung, dass es notwendig und sinnvoll ist, einen westlichen Weg des Tantra zu entwickeln – das Westliche Tantra. Ein Weg, der die grundlegenden Einsichten und Weisheiten des traditionellen Tantra würdigt, aber auch wissend, dass es wenig Sinn macht, jahrhunderte alte Methoden aus einer uns fremden Region eins zu eins in unserer westlichen Kultur zu übernehmen. Es gilt auch, die Pionierleistung von Osho zu würdigen, der den Tantrismus den westlichen Menschen zugänglich gemacht, viele Erläuterungen zum Tantra gegeben und hervorragende körperbezogene Meditationen entwickelt hat. Aber auch Osho ist kein Westler und viele tantrisch interessierte Menschen haben keinen Zugang zu ihm.
Wie es dem Wesen des Tantra eigen ist, wird es auch bei uns kein Grundlagenwerk geben, auf das sich alle berufen, obwohl es schon eine Reihe Bücher gibt, die eine breite Anerkennung finden, wie z.B. die Bücher von Margot Anand, Diana Richardson oder auch Osho. Was es aber geben sollte, ist ein selbstbewusstes Umgehen mit unserer eigenen Kultur und wichtigen therapeutischen Entwicklungen, die es Wert sind, mit tantrischen Ideen verbunden zu werden. Notwendig ist auch eine ethische Grundlage des Verhältnisses zwischen Trainern und Teilnehmern, die leider viel zu oft übertreten wird. Portale und Newsletter wie dieses hier sind wichtige Schritte auf dem Weg.
Text: Ralf Lieder & Felice Pospiech
Website: www.himmlisch-lieben.de