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Ich sehe was, was Du nicht siehst!

Wahrnehmung aus einer anderen Perspektive

Sechzehn Teilnehmer sitzen im Kreis um eine schön geschmückte Mitte zur Vorstellungsrunde in einem Tantraseminar. Sechzehn Augenpaare sehen diese Mitte aus sechzehn verschiedenen Perspektiven. Jeder einzelne Teilnehmer hat eine andere Sicht auf die Mitte und nimmt daher unterschiedliche Details wahr. Die Wahrnehmung jedes einzelnen beschränkt sich auf die Blickrichtung und alle daraus resultierenden Schlüsse, Bewertungen und Bedeutungsgebungen sind abhängig von der Sitzposition des Teilnehmers.

Selbst wenn zwei Menschen aus der gleichen Richtung dieselbe geschmückte Mitte betrachten, kann ihre Wahrnehmung verschieden sein. Der eine fokussiert auf die Farben, der andere auf die Gegenstände. Und sie geben dem, was sie sehen unterschiedliche Bedeutung. Obwohl die Mitte immer die gleiche ist und bleibt, erhält man auf Nachfrage bis zu sechzehn verschiedene Beschreibungen der Mitte.

Beginnen die Betrachter sich über ihre Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen und Bewertungen auszutauschen und erkennen deren Unterschiedlichkeit, kann es zu Auseinandersetzungen darüber kommen, wer Recht hat und wer nicht. Wortgefechte entstehen, Emotionen schaukeln sich hoch. Geht es um Dinge oder Situationen, die das eigene (Über-)Leben betreffen, kann es sogar zu Handgreiflichkeiten kommen. Auf der Ebene von Rassen oder Staaten sogar zu einem Krieg! Ein aktuelles Beispiel ist die Vergiftung des Russischen Doppelagenten in Salisbury und die Reaktionen der beteiligten Staatsführungen von Großbritannien und Russland.

 

Was hat das mit Grenzüberschreitungen zu tun?

Üblicherweise glaubt jeder Mensch seinem eigenen Erleben, seiner eigenen Wahrnehmung und den daraus entstehenden Gefühlen und Schlussfolgerungen. Und so ist er auch bereit, diese Wahrnehmung zu verteidigen, wenn sie angezweifelt wird. Werden mein Erleben und meine Wahrnehmung in Zweifel gezogen, erlebe ich dies bereits als Grenzverletzung: „Wie kann er es wagen, an meiner Geschichte zu zweifeln?“. Meine Authentizität, mein Selbstbewusstsein wird in Frage gestellt und alle möglichen Schutzprogramme laufen an, diese Grenzverletzung zu verteidigen. Ich muss mich und meine Selbstwahrnehmung in Schutz nehmen, eine Grenze ziehen! Eine Grenze, die nicht überschritten werden darf und wenn doch, fühle ich mich verletzt.

Wie können derartige Grenzverletzungen verhindert werden? Indem ich zunächst die Wahrnehmung und das Erleben meines Gegenübers achte und wertschätze. Indem ich ehrliches Interesse und Neugier dafür entwickle, wie dieses Erleben und diese Wahrnehmung zustande kommen. Und indem ich dem Menschen zutraue, dass seine (Selbst-)Wahrnehmung aus seiner Sicht und von seinem Standpunkt aus richtig ist. Dazu überschreite ich meine eigene Grenze – die Grenze meiner vielzitierten Komfortzone und betrachte die Situation, z. B. die geschmückte Mitte aus der Sicht meines Nachbarn. Bei den Indianern heißt es „einige Meilen in den Mokassins des Anderen laufen“. „Aha, so stellt sich also die Situation aus Deiner Sicht dar!“ Ich überschreite mutig meine eigene Grenze, um meinen Horizont zu erweitern und eine neue Sichtweise zuzulassen, indem ich die Situation vom Standpunkt meines Gegenübers betrachte. Schon sieht die Welt anders aus!

 

Grenzüberschreitung im Inneren

Menschen neigen seit jeher dazu, sich mit ihrem Erleben und den daraus resultierenden Geschichten zu identifizieren. „Ich bin so geworden, weil ich dies und das erlebt habe.“ Ändert sich die Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit, müssen die Geschichten angepasst werden, damit sie sich mit den aktuellen Glaubensmustern decken und in Einklang kommen. Bei diesem Vorgang verschwimmen die eigenen, inneren Grenzen und werden überschritten, ohne dass die Menschen sich dieser Grenzen oder deren Überschreitung bewusst werden.  In einer Studie dazu wurden amerikanische Studenten am Tag nach der Apollo-Katastrophe von 1967 befragt, was sie gerade taten, als sie von dem Unglück erfuhren.  10 Jahre später wurde den gleichen Menschen erneut die gleiche Frage gestellt. Ein Großteil der Geschichten hatte sich verändert …

Konfrontiert mit dem, was sie vor 10  Jahren gesagt hatten, leugneten viele ihre „alte“ Geschichte oder wurden sogar böse darüber, dass ihre aktuelle Geschichte bezweifelt wurde. Auch dies ist ein Selbstschutzprogramm, das unser Überleben sichert, indem es die Grenzen der inneren Wahrnehmung verschwimmen lässt, ohne dass es uns bewusst wird. Der eigene Standpunkt und damit der Erlebnishorizont ändern sich im Laufe des Lebens fast automatisch. Wer ein Tagebuch führt und nach vielen Jahren darin liest, kann dies bestätigen.

 

Grenzerweiterung und Wachstum

Grenzen sind wichtig und sinnvoll. Lebe ich mein Leben in „engen“ Grenzen? Bin ich bereit diese zu erweitern? Eine Möglichkeit der Grenzerweiterung ist, den eigenen Standpunkt, die eigene Sichtweise auf die Dinge zu verändern. Das obliegt der Selbstverantwortung jedes einzelnen Menschen. Bin ich bereit, Neues zu erfahren, zu lernen und zu wachsen?

Die Erweiterung von Grenzen braucht Impulse. Im besten Fall  kommt der Impuls aus dem eigenen Inneren. Oder der Impuls kommt von außen z. B. als Streit, Krankheit oder Schicksalsschlag. Wenn wir Glück haben, kommt der Impuls von einem wohlmeinenden Freund oder sonst jemanden der uns zugetan ist, um uns bei der Hand zu nehmen und sanft aber bestimmt über eine Grenze zu begleiten, die wir aus freien Stücken nicht überschritten hätten. Der andere sieht etwas, das ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen kann. Der Dissens unserer Wahrnehmung lädt mich ein, aus meinem „Schneckenhaus“ herauszukommen und die Dinge aus seiner Sicht zu betrachten.

„Ich sehe das, was Du siehst, wenn ich Deine Perspektive einnehme.“ Grenzüberschreitung erweitert den Horizont. „Hinterm Horizont geht s weiter“ sang Udo Lindenberg 1997. Um den eigenen Horizont zu erweitern, müssen wir Grenzen ausloten, mutig überschreiten und sie erweitern. Wachstum bedeutet Erweiterung und Erweiterung das Überschreiten von Grenzen. Wer keine Grenzen überschreitet, bleibt zeitlebens im Gefängnis seiner gewohnten Komfortzone. Leben heißt Veränderung – in jeder Sekunde. Das Ja zum Leben ist ein Ja zu Grenzüberschreitungen, Erweiterung und Wachstum!

 

Text: Klaus Gabriel Peill

Webseite: www.quinta-essentia.de

Ich sehe was, was Du nicht siehst!

Klaus Peill

Klaus Gabriel Peill, Jahrgang 1961, Tantra- und Reiki-Lehrer, Familiensteller und spiritueller Wegbegleiter. Als ausgebildeter Bankkaufmann, Elektroingenieur und Tonmeister war er 20 Jahre in der Vermarktung professioneller Audiotechnik tätig. Seit April 2010 selbständiger Gesundheitspraktiker (BfG) mit Schwerpunkt Persönlichkeitsbildung leitet er Seminare und gibt körperorientiertes Einzel- und Paarcoaching als Lebenshilfe und Begleitung in Lebenskrisen & Veränderungsprozessen.

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