Verbunden sein heißt Lieben
Menschen sind soziale Wesen, benötigen ihrer Natur nach Kontakt. Auch Körperkontakt. Wie ist es möglich, eine Zeit zu überbrücken, in der Kontakte, Begegnungen eingeschränkt sind? Und wie könnten buddhistische, spirituelle, tantrische Sichtweisen dabei behilflich sein?
Meiner Auffassung nach besteht eine Grundidee, eine Wurzel des Tantra darin, das Empfinden, die Wahrnehmung von Verbindung, Verbundenheit, wachsen zu lassen. In einem allgemeineren, umfassenderen Sinn könnte man dabei auch von Liebe sprechen, und diesen Gedanken habe ich versucht in einem früheren Text weiter auszuführen.
Der tantrische Pfad ist ein Weg, der zum Erwachen führen kann. Zur Erfahrung der vollständigen Verbundenheit mit dem Universum. Mit Allem. Dem Verspüren unermesslicher Liebe. Und auch wenn sich dieses Ziel nicht bewusst, willentlich ansteuern lässt, so ist es doch wertvoll, sich auf den Weg zu begeben. Die damit verbundene Entwicklung hat das Vermögen, jeden Menschen zu bereichern. Wachsen zu lassen.
In Zeiten, in denen Berührung, körperliches Hinspüren zu anderen Menschen erschwert oder sogar unmöglich ist, gilt es, andere Formen der Verbindung zu intensivieren. Die Beschäftigung mit dem eigenen Innenleben zum Beispiel. Der Austausch von Nachrichten oder das persönliche Gespräch mit anderen mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel. Aber darüber hinaus ist auch Verbundenheit mit der Welt jenseits des Menschen wichtig, schließt Tier- und Pflanzenwelt sowie die unbelebte Natur mit ein.
Bei jeglicher Art von Kontakt, Verbindung ist deren Qualität bedeutsam. Wie vollständig in einem gegebenen Moment die Aufmerksamkeit auf das Verspüren der Verbindung ausgerichtet ist. Dieser Gesichtspunkt bringt Achtsamkeit und Meditation ins Spiel. Die Lehren des Buddha. Als der Buddha gefragt wurde, wie er seine Lehre in einem einzigen Wort zusammenfassen würde, heißt es, er habe Sati gesagt. Zu deutsch: Achtsamkeit oder Bewusstheit.
Ein zentraler Pfeiler des Weges ist also Achtsamkeit. Sie kann in jedem Moment praktiziert, geübt werden. Zum Beispiel durch den Atem, einige achtsame, bewusste Atemzüge. Der Atem stellt eine natürliche Verbindung zwischen Außenwelt und Innenleben her und spielt deshalb beim Auflösen dieser willkürlichen Grenze eine besondere Rolle. Aber auch jeder anderen Tätigkeit kann achtsame Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dem Spülen eines Glases. Dem Betrachten einer Blume. Dem Schmecken eines Apfels. Dem Lauschen des Klangs einer Glocke.
Achtsamkeit richtet unser Augenmerk auf das Jetzt. Den gegenwärtigen Moment. Verleiht dem Jetzt Realität, Wirklichkeit und Wahrheit. Im Deutschen besitzen wir das schöne Wort Wahrnehmen. Wie besser könnte man die direkte Beziehung zwischen Erleben und Realität ausdrücken? Einer Verknüpfung von Elementen des Außen mit Empfindungen im Innen. Diese Verankerung im Moment bietet die Chance, Ängste abzuschwächen. Ängste sind negative, belastende Gefühle über Geschehnisse in der Zukunft. Aber wir kennen die Zukunft nicht, können sie nur mit mehr oder weniger großer Unsicherheit vorhersagen. Deshalb ist für mein Empfinden Angst eine Emotion, die verzichtbar ist. Keinen entscheidenden Vorteil mit sich bringt.
Das bedeutet nicht, dass Ängste, die auftauchen, unterdrückt werden sollen. Aber sie sollten auch nicht unnötig genährt werden. Sondern nur angenommen, akzeptiert und beobachtet. Wie ein eigenständiges, unabhängiges Gebilde. Ein Nebel. Dies bietet die beste Aussicht, dass sich bestehende Ängste nach und nach auflösen. Zu einer der vier Noblen Wahrheiten des Buddha gehört die Aussage, es sei möglich, Leid loszulassen. Und zu diesem Leid gehören auch Ängste und Sorgen. Achtsamkeit und meditatives Erleben des Augenblicks haben das Vermögen, die Wirklichkeit des Moments zu stärken und unsichere Projektionen in die Zukunft weniger wichtig erscheinen zu lassen. Damit unser Handeln nicht von Ängsten getrieben, sondern in weitestgehender Freiheit möglich ist.
Gleichwohl erscheint es mir wichtig, möglichst genaue Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen treffen zu können, um gute Grundlagen für Planungen und Entscheidungen der Politik zu erhalten. Aber diese Vorhersagen sollten den Experten des jeweiligen Gebietes überlassen bleiben. Ich selbst bin Naturwissenschaftler, Physiker, und mit vielen Wissenschaftlern befreundet. Die Allermeisten von ihnen nehmen ihre Arbeit sehr ernst und versuchen auf der Basis unserer gegenwärtigen Kenntnis der Welt das Wissen ursächlicher Zusammenhänge zu erweitern. Was immer bessere, verlässlichere Vorhersagen über die Zukunft ermöglicht. Auch wenn diese verständlicherweise nie in allen Fällen zutreffend sein werden. Immer mit Unsicherheiten, Unwägbarkeiten behaftet sind. Ungeachtet dessen sollten wir Wissenschaftlern Vertrauen entgegenbringen. Und davon ausgehen, dass jeder Mensch seine im Leben gefundenen Aufgaben so gut wie möglich zu erfüllen versucht. Auch hierbei Achtsamkeit walten lässt.
Was aber ist Wahrheit? Und wie ließe sie sich erkennen? Natürlich gibt es Wahrheiten, die wir für allgemeingültig halten. Zumindest solange es eine Erde mit Leben im Bereich ihrer Oberfläche gibt. Etwa, dass morgen die Sonne wieder aufgehen wird. Oder von einem Baum abgeworfene Blätter zu Boden fallen. Absolute Wahrheiten aber existieren meines Erachtens nur in der Mathematik. Sind dort Definitionen und daraus abgeleitete Sätze. Im Grenzbereich, am Rande der Wissenschaften, in dem Wahrheiten über die Welt in Spekulation, Glauben, Spiritualität überzugehen beginnen, werden sie immer individueller. Und lassen sich nur durch eigenes, persönliches Erleben, Erfahren bestätigen. Durch eigenes Sehen. Dieses Sehen wird umso klarer, je direkter unsere Verbindung mit der Welt ist. Je größer und umfassender die Liebe. Zum Dasein.
Text: Matthias Jamin
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