Das Wort Trauma stammt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde oder Verletzung. Für die nachfolgenden Betrachtungen habe ich eher die Bedeutung Verletzung im Sinn, weil diese auch länger in der Zeit zurück liegen kann, wohingegen eine Wunde üblicherweise akuter, frischer ist. Und es soll mehr um Verletzungen der Psyche, der Seele, gehen, wobei selbstverständlich eine Verletzung des Körpers auch seelische Traumata verursachen kann.
Dennoch erscheint es mir hilfreich, zunächst den achtsamen, liebevollen Umgang mit Verletzungen des Körpers in Augenschein zu nehmen, weil dies Anregungen, Fingerzeige für den Umgang mit der Seele geben kann. Und erwächst die Psyche letztendlich nicht auch als Konsequenz des Körperlichen, Materiellen? Ohne genauer zu präzisieren, was Materie darstellen soll. Vielleicht wäre dies auch gar nicht möglich. Zumindest ohne Zuhilfenahme von physikalischen Begriffsbildungen.
Welches wäre der Umgang mit einer körperlichen Verletzung, der tantrische Ideen berücksichtigt? Mein Verständnis des Tantra habe ich versucht in einem früheren Text zu skizzieren, und von diesen grundlegenden Ideen möchte ich mich auch hier leiten lassen. Persönlich sehe ich das Tantra als ein Werkzeug, die Liebe in einem allgemeineren Sinn wachsen zu lassen, wobei ich unter Liebe in dieser umfassenden Bedeutung das Verspüren von Verbindung verstehen möchte. Verbindung zu mir selbst, dem Innen, sowie Verbindung zu anderen Menschen, Tieren, der Natur, als auch möglicherweise weiteren Dingen, Strukturen, Teilen unseres Universums, des Außen.
Eine Verletzung des Körpers lässt sich vielleicht dadurch charakterisieren, dass er von einem größeren Gleichgewicht, größerer Harmonie, mehr ins Ungleichgewicht gebracht wird. Ein Schnitt in den Finger, eine Prellung nach einem Stoß oder Sturz, der Abriss einer Sehne, oder der Bruch eines Knochens. Häufig geht die Verletzung auch mit dem Verlust, dem Abriss von Verbindung, einher. Wie könnte man einer solchen Verletzung nun möglichst liebevoll, ganz im tantrischen Sinne, begegnen? Verbindung wieder herstellen?
Zunächst einmal sind negative Gefühle, wie Angst, Ärger oder Wut, nicht wirklich hilfreich, auch wenn diese eine erste, natürliche, automatische Reaktion unseres Körpers sind. Das erinnert mich an eine Anekdote aus meiner Studentenzeit in Heidelberg. Kurz nach meinem Einzug in eine Wohngemeinschaft, wollte ich über einem braunen Cord-Sofa, das mir Bekannte geschenkt hatten, ein Bild aufhängen. Beim Einschlagen des Nagels schlug ich mir mit ziemlicher Wucht auf den rechten Daumen. Ich bin von Natur aus Linkshänder, und halte Werkzeuge wie Hammer oder Säge häufiger in der linken Hand. Der plötzliche, starke Schmerz machte mich so zornig, dass ich vor lauter Wut mit dem Hammer einmal heftig auf das unschuldige Sofa einschlug, auf dem ich zum Aufhängen des Bildes gestanden hatte. Dabei riss der Cord-Bezug des Sofas, und es entstand eine unschöne, klaffende Stelle. Ich habe das Sofa dann notdürftig mit Nadel und Faden geflickt, den Riss aber ansonsten so belassen, als Mahnung an mich, dass Zorn kein guter Ratgeber ist.
Nach den allerersten, instinktiven, aus der evolutionären Entwicklung herrührenden, negativen Gefühlen wie Angst oder Ärger, erscheint es also sinnvoll, die neue Situation mit Bewusstheit anzunehmen, in möglichst liebevollen Kontakt damit zu kommen. Um dann mit einer ausgewogenen Mischung aus Verstand und Herz nächste Schritte zum weiteren Umgang mit der Verletzung einzuleiten. Und dabei in möglichst großem, emotionalen Gleichgewicht vorzugehen, ohne die besondere Situation zu bagatellisieren, noch zu dramatisieren. Auch für länger zurückliegende Verletzungen scheint mir dies die beste, will heißen, liebevollste Weise zu sein, mit ihren Auswirkungen umzugehen. Wobei man sich im Sinne der zweiten Noblen Wahrheit des Buddha eine Veränderung zum Positiven selbstverständlich wünschen darf, aber nicht verlangen sollte. Denn Leid entspringt aus Verlangen. Und es folglich der persönlichen Entwicklung auch förderlich ist, die Fähigkeit zu schulen, unerfüllte Wünsche loszulassen. Und zukünftige Geschehnisse, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil, dem Rest des Universums zu überlassen. Dem Außen. Auf das alles Eins werde.
Auch für Verletzungen, Traumata der Seele, erscheint ein möglichst ausgewogener, liebevoller Umgang am hilfreichsten. Weder die Augen verschließen, noch zu weit aufreißen. Weder den Kontakt vermeiden, noch zu sehr anhaften. Eine Verbindung einzugehen die Bestand hat, verspürt werden kann, ohne beeinflussen, willentlich verändern zu wollen. Diese Herangehensweise entspricht genau dem Umgang mit Gedanken in der Meditation. Gedanken dürfen da sein, wahrgenommen werden, sollten aber keine besondere Beachtung erfahren. Dann werden sie sich, irgendwann, von alleine auflösen, wie ein Morgennebel im Sonnenschein.
Und im Tantra, das ja nicht nur eine Affinität zum Geistigen, Spirituellen, sondern auch zum Körperlichen hat, dieses auf vollkommen natürliche Weise einbezieht, haben auch Berührungen diesen Charakter. Sie dürfen einfach da sein, in Harmonie, ohne weg zu stoßen, noch festhalten zu wollen. Und doch Liebe empfangen und schenken. Diese Art von Berührung hat das Vermögen Traumata hinter sich zu lassen, die Seele zu gesunden. Was nicht bedeutet, dass keine Narben verbleiben. Aber wie mit manchen Narben des Körpers, die ein erfülltes Leben fast unvermeidlich mit sich bringt, kann man auch mit diesen voller Stolz sein.
Zum Abschluss dieser Betrachtungen möchte ich, auch wenn ich persönlich von der heilsamen Wirkung des Tantra überzeugt bin, dennoch zu bedenken geben, dass es viele Wege des Wachstums gibt, und viele Wege der Heilung. Gerade bei schweren Traumatisierungen könnte es deshalb gefährlich, möglicherweise lebensgefährlich, sein, sich gänzlich auf einen Weg beschränken zu wollen. Deshalb sollte immer im Auge behalten werden, eventuell auch professionelle Hilfe von Ärzten und Therapeuten mit einzubeziehen. Alles andere würde bedeuten, die Segen der modernen Medizin, die reichhaltigen Erkenntnisse der Psychologie, außer Acht zu lassen, und gänzlich auf alternative, archaischere Methoden zu vertrauen. Aber ist nicht gerade dies vollkommen im Sinne des Tantra: alles zu betrachten, gegebenenfalls anzunehmen, mit einzubeziehen? Auch hierbei scheint Balance, Gleichgewicht ein guter Ratgeber zu sein. Möglichst viel in Betracht zu ziehen, und in sich hinein zu spüren, in welche Richtung die Schritte des eigenen weiteren Weges gehen sollen. Wie so häufig kann dabei das Herzgefühl ein guter Gradmesser dafür sein, was mich bereichert, was mir gut tut, und was die Liebe wachsen lässt.
Text: Matthias Jamin
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