Wie gehen wir im Tantra mit Schatten um?
Tantrischer Wunschtraum gefällig?
Warum nicht gleich in den Pool der Lust hineinspringen? Wozu gibt es die Schattenarbeit und erst anschließend die tantrischen Rituale? Können wir nicht gleich damit starten? Nach dem Motto: Lunghi aus und nackig ran an den Speck?
Wer immer mit viel Engagement Neugier und Entdeckerfreude in den wilden Strom von Sexualität und Liebe gesprungen ist, weiß, dass man schneller als erahnt manchmal hilflos in den Stromschnellen rudert und schweißnass außer Atem sein Boot des Lebens wieder ans Land zieht.
Manchmal landen die Entdecker/Innen an einem neuen Ufer oder haben Lebenswichtiges erfahren. In jedem Fall wird man selten so heftig mit den eigenen Schatten-Anteilen konfrontiert wie im Bereich Liebe, Sexualität und Beziehung.
Das moderne Tantra – so wie ich es verstehe und lehre – lässt diese Themen nicht aus. Im Gegenteil. Es nutzt alle Gegebenheiten sehr praxisorientiert, um mit Neugier das Lebendige zu verstehen und zu erforschen.
Im Tantra gilt die Schattenarbeit als ein durchgängiger Prozess der Reinigung und Erkenntnis. Schließlich unterstützt es auch die innere Haltung, sich zum Beispiel im tantrischen Ritual mit den Göttern Shiva oder Shakti zu identifizieren, „um mit ihnen an einem Tisch sitzen zu können“.
Rein ins Reich der Schatten!
In meiner tantrischen Arbeit gibt es aufwendige, explizite Abschnitte, die sich besonders mit den Schatten-Aspekten beschäftigen. In einer geführten Session werden die Teilnehmer in „das Reich der Schatten“ begleitet. Jeder findet dort seinen persönlichen Schatten, jenen Dämonen, der ihm am meisten Energie im Leben raubt.
Der Schatten entsteht mit der persönlichen Geschichte. Meist sind es frühe Erfahrungen, die überfordernd und nicht gut verdaulich waren. Die unverdauten Gefühle und Ereignisse sind der Grundstoff des sogenannten Schattens, der abgespaltenen Teile der Persönlichkeit. Diese Aspekte leben versteckt im Unterbewusstsein.
Im Alltag zeigt der Schatten sein Gesicht – zum Beispiel in intimen und nahen Beziehungen. Seiner Natur nach sorgt er dafür, die vorhandene Liebe häppchenweise zu zerstören oder sich gar nicht erst einzulassen. Obwohl die Nähe ersehnt wird, schafft er immer wieder Distanz.
Nach der Reise in die Welt der Schatten wird der gefundene Dämon in Form von „Action Painting“ direkt auf s Papier gebracht. Meist erscheinen dabei gruselige Fratzen. Oft sind richtige Kunstwerke darunter, die den Betrachter ins Staunen versetzen – selbst wenn die Geschichte des Bildes und seine Bedeutung unbekannt sind.
Tanze deinen Schatten
In einem Tanz begegnet der Zeichner nun seinem eigenen Schatten.
Der Tanz bietet die Möglichkeit herauszufinden, wie der Schatten auf den Körper wirkt. Der Zeichner übergibt dem Schattenbild intuitiv die Kontrolle und lässt sich bewegen, lässt sich atmen, erlaubt das Ausbreiten des Schattens auf die Körperempfindungs-Ebene.
Dadurch erforscht er ebenfalls wie der Schatten ihn nicht nur zum Opfer, sondern an mancher Stelle auch zum Täter macht. Ein sinnbildlich-bewegender Akt, der seine Magie vor allem in der gefühlten Erkenntnis und dem neuen Verständnis über sich selbst entwickelt.
Innerhalb des geschützten Raumes kann der Schatten von der Leine. Seine Kraft darf sichtbar werden. Manchmal ist es tobender Zorn, mörderische Wut oder ein Meer von Tränen, das sich in einer Welle von vergangener nicht gesehener Liebe aufbaut und im Loslassen befreien kann.
Diesen Dämon ans Licht zu bringen bedeutet in einigen Fällen das Bild komplett zu zerstören. Hier überlebt der Schatten diesen Tanz –ganz praktisch– nicht.
In jedem Fall aber bringt das sich Einlassen und körperliche Fühlen des Dämons, die Erkenntnis, die ureigene Energie und tiefe Freude zurück.
Im Schattentanz wird der Schatten wortwörtlich tanzend ins Licht gerückt, um ihn langfristig zum Freund zu machen. Gleichzeitig ist es ein sehr spannender Prozess, in dem sich die Lust befreit.
Diesen Prozess zu bezeugen, das Leben zu betrachten und zu sehen, wie es ist und wie es sich immerwährend entfaltet, dies ist die Aufgabe des tantrischen Zeugen. Und damit auch von jedem Teilnehmer im Geschehen. Das Bezeugen rührt immer an den eigenen Tiefen der Seele. Oft braucht es viele Taschentücher. Und dies absolut nicht nur wegen trauriger Gefühle, denn nicht selten kullern Freudentränen oder Tränen der (Be-) Rührung.
Der Moment wird kostbar. Insbesondere wenn der Schatten erkannt wird, quasi im Licht steht und dadurch seine Macht verliert. So wie ein Vampir im Tageslicht zerfällt, so wird manch ein Schatten Geschichte, – wenn auch zu einem einzigartigen, sehr persönlichen Memoire.
In diesem Moment des Erkennens kann sich die Energie wandeln. Begegnungen werden intensiver, die Lust kann sich ausweiten. Wir können Eintauchen in eine Welt, die sich immer wieder neu entblättert, entblößt und erweitert.
Wir können entscheiden, ob wir dies mit allen Sinnen und in vollen Zügen genießen.
Die tantrische Haltung erlaubt, dass sich Leidenschaft anbahnt, nur stärker und intensiver als zuvor …
Text: Ilka Stoedtner
Webseite: www.ilka-stoedtner.de