Tantra ist für Alle da – Tantra überwindet die Geschlechterhürde
Tantrische Angebote gibt es zuhauf, gerade hier in Berlin. Oft sind Angebote darunter, die eine geschlechtsspezifische Teilnahme vorsehen. Es sollen also möglichst gleichviele Männer wie Frauen teilnehmen. Das ist oft bei der Tantramassage so, aber auch bei tantrischen Seminaren wie Genitalmeditation oder sogar Kuschelabenden. Das hat seinen Hintergrund oft jedoch nicht im Angebot, mit Tantra hat das nämlich nichts zu tun.
Tantra ist eine Philosophie, die eine Vereinigung der Pole anstrebt: Shiva und Shakti, männliches/ geistiges Prinzip und weibliches/ lebensspendendes Prinzip – kosmisches Bewusstsein und göttliche Energie … die letztendliche Lösung findet sich aber in der Vereinigung der Gegensätze (symbolisiert durch die Vereinigung von Shiva und Shakti, die wiederum im Ritual symbolisiert durch Mann und Frau).
Die moderne Tantramassage hat insoweit wenig mit der klassischen tantrischen Lehre und Praxis gemein. Schon oft habe ich erlebt, dass Männer an Tantramassage-Abenden nicht teilgenommen haben, weil ihnen an der Tür gesagt wurde, dass ein Männerüberschuss besteht. Öfters habe ich erfahren, dass Männer, die mich (Mann) massiert haben, mit ihrer Aufmerksamkeit nicht bei mir, sondern bei den anwesenden Frauen waren … ihre Berührungen waren dann mechanisch und teilnahmslos. Zum anderen habe ich auch sehr schöne und berührende Momente in Begegnungen mit Männern erlebt habe, die sich auf ihre eigene Polarität und auf den Moment der Begegnung eingelassen haben.
Gerade Männer können (oder wollen) sich einen körperlichen Kontakt mit Menschen ihres Geschlechts nicht vorstellen. Männer haben oft Angst davor, Männern „zu nahe“ zu kommen und sehen darin die Gefahr, dann doch als schwul zu gelten. Zudem ist es logisch, dass Mann mit Männern wenig anfangen kann, die sich nicht zeigen und ihre Gefühle nicht offenbaren (einfach, weil sie es nicht gelernt haben). Frauen geht das auch so.
Die Angst Menschen des eigenen Geschlechts zu berühren ist bei Frauen übrigens auch vorhanden, aber weniger ausgeprägt als bei Männern. Die langen Jahre der Frauenbewegung haben da schon mehr Selbstverständnis für das eigene Geschlecht entstehen lassen. Das wünsche ich mir für uns Männer auch!
Tantra – Einheit in der Verschmelzung der Pole
Tantra strebt also die Einheit an, die Auflösung der Polaritätsunterschiede. Diese Polaritäten sind in jedem Menschen lebendig; je nach Tätigkeit, innerer Ausrichtung und auch nach Tagesform ist jeder von uns männlicher oder weiblicher unterwegs. Das gilt für jeden von uns, unabhängig von seiner oder ihrer oder ‚esser‘ Geschlechtsausformung oder Geschlechtsidentität.
In den von mir angeleiteten Seminare bedeutet das ganz praktisch, dass ich Teilnehmer dazu ermuntere, auch mit Geschlechtsgenossen zu praktizieren. Das gilt natürlich sowohl für Männer als auch für Frauen. Bei Seminaren, die mehr mit Bewusstheit zu tun haben und weniger mit Körperlichkeit, ist das für die meisten gut machbar.
Spannend wird es aber schon in dem Moment, wenn Rollenbilder mit ins Spiel kommen. Bei der Übung des spielerischen Führens in der Seminarreihe zum Flirten sind viele Teilnehmer zunächst einmal irritiert, wenn sie diese Begegnung auch mit Menschen des gleichen Geschlechts machen sollen. Nach der Übung ist es aber regelmäßig so, dass ihnen klar ist, dass zwischenmenschliche Kommunikation nicht auf das Geschlecht des Adressaten bezogen ist (außer es ist plumpe Anmache), sondern auf den Menschen und die gemeinsame seelische Ebene.
Noch spannender wird das bei Seminaren, die Körperlichkeit und Arbeit mit Körperenergie mit einbeziehen. Hier ist das stereotype Rollendenken nicht nur auf die Teilnehmer beschränkt. Gerade in den Seminaren zu esoterischen Themen wie „Tantric FullbodyOrgasm“ wird von Lehrern, die mehr aus den traditionellen Hintergründen des Yoga kommen, oft besonders auf die Geschlechter fixiert: es sollen dann nur Männer mit Frauen (und andersherum) praktizieren. Manchmal wird sogar behauptet, dass es für die Entstehung eines Energieflusses notwendig sei, mit dem anderen Geschlecht zu üben und es mit Menschen des eigenen Geschlechts gar nicht gehe.
Die Erfahrung in meinen Seminaren ist aber eine ganz andere:
gerade Männer, die sich darauf einlassen, die energetischen Übungen auch mit Männern zu machen und die sich dabei wirklich auf ihr Erleben einlassen, erfahren eine große Bereicherung. Sie erleben sich in ihren Polaritäten und erfahren unter Umständen das erste Mal, dass sie sich auf einen Mann als Mensch einlassen und (quasi trotz des physischen Geschlechts) liebevoll unterstützend und/oder annehmend sein können. Bei Frauen ist das auch zu bemerken. Auch sie blühen regelrecht auf und sind nachher klarer in ihrer eigenen Identität.
Und meiner Erfahrung nach ist es gerade bei Menschen mit nicht dauerhaft polarer Geschlechtsidentität oft so, dass sie es genießen, sich in die Polarität zu begeben und sich darauf einzulassen. Sie können viel leichter in spielerischer Weise die beiden Pole leben, die in ihnen so bewußt präsent sind. Davon können wir „Normalos“ oft noch eine Menge lernen.
Geschlechtsidentitäten – gelebt
Es ist natürlich so, dass es die Polaritäten tatsächlich gibt. Sie bestehen, wie gesagt, in jedem von uns und zwischen allen Menschen. Manchmal ist es sehr hilfreich, sich der spezifischen Qualität dieser Polarität klar zu werden, z.B. das Männliche in seiner Organisiertheit, Strukturiertheit und Ausrichtung zu erleben. Das können Frauen auch, da auch sie diesen Pol in sich tragen.
Dass Männer auch den weichen, lebendigen Pol in sich tragen, können sie oft erst in Männergruppen erfahren, wenn sie die Maske der Konkurrenz endlich einmal fallen lassen können und sich auch unter Männern mit ihren Gefühlen und Empfindungen beschäftigen dürfen, ohne dafür gehänselt zu werden.
Dazu sind geschlechtsspezifische Angebote prima: sie unterstützen die bewußte Beschäftigung mit einem der beiden Pole, die „Dekonstruktion“ des verhärteten Rollenbildes, den Aufbau eines neuen, integrierenden, umfassenderen Bildes der Möglichkeiten und dessen Integration in das eigene Leben.
Die Zeit des Gegeneinanders und des geschlechtsbezogenen Rückzugs ist vorbei. Inzwischen wissen wir, dass wir nur gemeinsam mit allen Menschen in unserer Entwicklung vorankommen. Speziell die Verständigung zwischen Männern und Frauen, die Überwindung der Rollenspezifika durch gegenseitiges Verständnis und wirkliche Annahme ist ein essentieller Schritt in eine friedliche Zukunft.
Geschlechtsneutrale Angebote sind dafür ein wichtiger Beitrag, weil hier Männer wie Frauen sich in ihrer ganzen Vielfalt erleben dürfen – und falls in diesem Kontext Fragen zu geschlechterspezifischen Themen auftauchen, sind sie dringend gewünscht und wertvoll. Wir alle können von dem leichteren Wechsel zwischen den Geschlechterausrichtungen lernen, den Menschen mit nicht-binäre* Geschlechtsidentitäten uns schon vorleben.
(*Nicht-binär bedeutet, dass eine Person mehrere Geschlechter gleichzeitig haben / leben kann, und dass diese wechseln können).
Text: Ramos
Website: www.liebesschule.de