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Wie Entwicklungstraumata im Tantra aktiviert werden und wie wir damit umgehen können

Tantra zieht viele Menschen an, die sich ein erfüllendes Liebesleben wünschen – inklusive frei ausgelebter Sexualität. Auch wenn die Lehre des Tantra weit über dieses Thema hinausgeht, kann Tantra tatsächlich viel zu mehr Lust und Liebe beitragen, auch für mich waren Tantragruppen in dieser Hinsicht ein Türöffner. Die Vorstellung, dass das erfüllende Liebesleben direkt und sofort im Gruppenraum stattfinden könnte, schreckt allerdings auch manche ab oder wird als Gruppensex mit Räucherstäbchen belächelt.

Mich hat der tantrische Duft erotischer Freiheit damals begeistert. Es geschah zwar erst nach Ende der offiziellen Seminarzeit, aber ganz offen in einem als Liebestempel deklarierten Gruppenraum auf achtsame Weise Sex zu haben und andere dabei zu beobachten, das hat mich tief berührt und eine heilsame Botschaft übermittelt, nach der ich mich lange gesehnt hatte: Sex ist vollkommen okay und muss nicht heimlich, still und leise gelebt werden. Gott und die Welt dürfen zuschauen.

Die Kehrseite der Befreiung

Soweit so gut. Was ich im gleichen Workshop allerdings auch erlebt habe: Ich bin massiv über meine Grenzen gegangen und in eine Situation hineingeschlittert, in der ich mich heftig missbraucht gefühlt habe. Ich tendiere nicht dazu, mich als Opfer zu empfinden, deshalb ist es mir relativ leicht gefallen, einiges daraus zu lernen. Dazu gehörte wesentlich, meine Grenzen kennenzulernen und zu bemerken, wenn mich etwas überfordert. Leider ist das Thema Grenzen in einigen Tantraschulen unterbelichtet, dazu habe ich bereits in einem anderen Beitrag deutlich Stellung bezogen. Dass Tantra nicht unbedingt eine heile Welt ist, habe ich auch in meinem Roman beschrieben, was vielen, aber nicht jedem gefallen hat. Es wäre doch so schön, wenn es einen Ort gäbe, wo alles gut ist – oder zumindest gut wird.

Es ist wie so oft im Leben: Wenn wir allzu begeistert in die eine Richtung schauen, verlieren wir die andere aus dem Blick. Wenn wir voll darauf ausgerichtet sind, uns aus den Fesseln verstaubter Sexualmoral zu befreien, sind wir versucht zu übersehen, dass Befreiung neuen Druck aufbauen kann. Inzwischen ist Sex nicht mehr nur Schmuddelkram wie zu Zeiten meiner Kindheit, sondern medial zum Image- und Lifestylethema avanciert. Wer seine Sexualität nicht frei und multiorgastisch lebt, kann schon mal unter Rechtfertigungsdruck geraten. Was, du kannst noch nicht squirten oder kennst keinen ganzkörperlichen Orgasmus? Na, dann aber mal los!

Anfällig für Überforderung

Menschen mit entwicklungstraumatischem Hintergrund sind für Leistungsansprüche besonders anfällig. Sie haben in der Kindheit erlebt, dass sie sich Zuwendung erst verdienen mussten und dass es nicht darauf ankam, was sie selbst wollen oder was nicht. Ihre frühkindlichen Bindungen haben sie nicht vor Übergriffen schützen können oder davor, nicht gesehen oder chronisch missverstanden zu werden. Sie haben gelernt damit umzugehen, oft indem sie sich für ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen desensibilisiert haben. Das führt natürlich später zu Problemen im Liebesleben und umso größer kann die Sehnsucht werden, im Tantra eine heile Welt vorzufinden, einen geschützten Rahmen, wo „so etwas“ nicht wieder passiert.

Es passiert aber doch. Vor allem, wenn die Leitung nicht entsprechend sensibel und geschult mit diesen Themen umgeht, kommt es zu Retraumatisierungen.  Das ist nicht der einzige, aber einer der Gründe, warum die etablierte Psychotherapie mit einer gewissen Skepsis auf die Tantraszene schaut.

Wenn Aufmerksamkeit zum Missbrauch wird

Die folgende Konstellation ist besonders heikel. Manche Frauen haben als Mädchen die Erfahrung gemacht, dass ihre Mutter kaum für sie da war und dass sie vom Vater vor allem dann Aufmerksamkeit bekamen, wenn sie ihren Ausdruck subtil oder offen erotisierten. Viele behalten dieses Muster bei und versuchen auch als erwachsene Frauen auf diese Weise, Männer auf sich aufmerksam zu machen oder an sich zu binden, obwohl es ihnen gar nicht in erster Linie um Sex geht. Das kann sich im Tantrakurs besonders leicht wiederholen, weil hier oft beide Ebenen angesprochen werden, die kindliche und die erwachsene. Das birgt sowohl Chancen als auch Gefahren.

Speziell gefährlich wird es, wenn Therapeuten oder Tantralehrer diese Dynamik nicht verstehen und sexuelle Angebote von Teilnehmerinnen annehmen oder selbst sexuelle Kontakte initiieren. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir darum wissen oder nicht, in jedem tiefergehenden psychischen Prozess spielt Regression eine wichtige Rolle: Mama und Papa werden auf Leitungspersonen projiziert. Ich halte es daher für einen Kunstfehler, sich zeitnah zu solchen Prozessen auf sexuelle Kontakte mit TeilnehmerInnen einzulassen, mit der fadenscheinigen Begründung, diese seien erwachsen. Sie sind es gefühlt eben oft nicht und mit entsprechender Vorgeschichte nehmen sie das selbst oft nicht wahr. Ich habe solche Vorgänge auch bei meinen Lehrern mitbekommen und bin mir nicht sicher, ob sie je daraus gelernt haben.

Anzeichen einer Trauma-Aktivierung

Es gibt viele weitere Möglichkeiten, entwicklungstraumatische Vorerfahrungen im Tantra zu reinszenieren. Das lässt sich wahrscheinlich nie vollständig verhindern, aber wir können sensibel für typische Anzeichen sein: Übermäßige Idealisierung, Schwarz-Weiß-Denken, Abgeschnittenheit von Emotionen, wenig Körpergefühl, kaum Erdung, extrem schwankende Emotionen und im Akutstadium die klassischen Schreckreflexe Kampf, Flucht oder Totstellen. Leider sind das alles Symptome, die fast jeder mal erlebt. Umso wichtiger ist es, den Gruppenprozess so zu gestalten, dass Teilnehmende die Möglichkeit haben und dabei unterstützt werden, ihren Prozess selbst zu steuern und vor allem die Intensität einer Übung zu dosieren.

Risikodosierung – die drei Zonen

An anderer Stelle habe ich ausführlich die drei Zonen beschrieben, die für die Prozesssteuerung wichtig sind: Die Komfort-, die Risiko- und die Überforderungszone. Wenn wir mit Menschen arbeiten, sollte die Kenntnis dieser Zonen zum Standardrepertoire gehören. Dazu gehört, wie wir Menschen darin unterstützen können, sich und ihre jeweilige Verfassung wahrzunehmen und die eigene Erfahrung entsprechend dosieren zu lernen. Bei akuter Überforderung geht es zunächst darum, sich selbst zu beruhigen und das Nervensystem soweit herunterzufahren, bis die eigenen Ressourcen wieder zugänglich sind. Bei Langeweile hingegen könnte es Sinn machen, bewusst größere Risiken einzugehen.

Leider ist aber auch Langeweile nicht immer ein Zeichen dafür, dass wir uns in einer Komfortzone aufhalten. Es kann auch ein Hinweis darauf sein, dass wir uns nicht mehr spüren, weil wir überfordert sind und das Nervensystem notabschaltet. Hier ist die Kenntnis der Polyvagal-Theorie hilfreich.  Mit ein wenig Lektüre oder einem Schnellkurs in Traumatherapie ist es allerdings nicht getan, um mit Entwicklungstraumata und ihrer Aktualisierung im Gruppenprozess verantwortlich umgehen zu können.

Verantwortlich handeln

Woran können wir merken, dass wir Gefahr laufen, unverantwortlich zu handeln? Wichtig wäre, eine Trauma-Aktivierung auch bei sich selbst erkennen zu können. In Pandemie-bedingt für viele traumatischen Zeiten gelingt das allerdings nicht einmal jedem Trauma-Therapeuten. Ein weiteres wichtiges Merkmal könnte dieses sein und sollte uns stutzig machen: Wir glauben, uns bestens auszukennen und in dieser Thematik alles richtig zu machen, geraten bei Zweifeln oder Kritik aber reflexhaft in eine Abwehrhaltung. Das kann passieren, es ist mir auch schon passiert und es passiert vielleicht schon beim Lesen dieses Artikels. Dann sind es zunächst wir selbst, die Hilfe brauchen. Das anzuerkennen ist schon ein wichtiger Schritt in Richtung von mehr Empathie. Wenn es irgendetwas gibt, was unserer Welt wirklich gut täte, dann ist es Empathie. Tantra ist keine heile Welt, aber vielleicht können wir zur Heilung der Welt zumindest etwas beitragen.

Text: Saleem Matthias Riek

Website: www.schule-des-seins.de

Tantra – eine heile Welt?
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Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist 1959 geboren, Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge, Buchautor und lebt bei Freiburg im Breisgau. Seit 1986 erfolgreiche therapeutische Arbeit mit Einzelnen und Gruppen, seit 1992 mit den Schwerpunkten Liebe, Erotik, Paarbeziehung und Tantra, seit dem Jahr 2000 auch in der Ausbildung von Gruppenleitern tätig. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Weitere Bücher, darunter ein Roman, sind in Vorbereitung.

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2 thoughts on “Tantra – eine heile Welt?

  • 1. März 2021 um 18:28
    Permalink

    Lieber SMR,

    das ist ein be-merkenswerter Beitrag !!! Ich hatte kürzlich eine Reportage über ein Tantra-Seminar gesehen, wo TeilehmerInnen am 2. Tag sehr irritiert abgereist sind, weil die Leiterin zu Übungen animiert hat, für die wohl nicht alle bereit waren. Viele Seminarleiter, die etwas durch setzen wollen, reagieren dann auf Kritik oder Ablehnung mit einer reflexhaften rhetorischen Abwehrhaltung, begründen die Übungen mit einer beschwichtigenden Verbalakrobatik (in der autoritäre Elemente geschickt verpackt sind) – und merken dabei nicht, wie sie selbst an Autorität einbüßen. Eine kritische Selbstreflexion findet danach nicht statt – das Eingeständnis eines Fehlers oder gar Versagens darf nicht stattfinden. Fast schon wie bei Diktatoren bzw. autoritären Herrschern, um die eigene Paranoia zu schützen. Aber, wie man so schön sagt: gerade durch das Verbergen-wollen wird die Schwäche offen gelegt.
    Sexuelle Grenzüberschreitungen und Übergriffe gibt es auch seitens Traumatherapeuten – da werden eigene Defizite offenbar, die für bestimmte affine Phänomene oder Symptome blind machen. Das habe ich einige Male erlebt, wenn Klienten den Weg zu mir gefunden haben, die dann mit zwei Traumata die Flucht vor ihrem Therapeuten ergriffen haben.
    Die meisten Seminarleiter, gleich in welchen Branchen und Themengebieten, haben oftmals keine profunde Ausbildung – da wäre eine Lehranalyse sehr hilfreich. Natürlich keine, die wie in der klassischen Psychoanalyse so um die 600 Stunden beansprucht. das ist zeitlich und vor allem auch finanziell nur für Wenige zu schaffen. Das ist aber auch gar nicht nötig – Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, hatte festgestellt, daß 30 Stunden ausreichend sind (mehr bringt nur der Brieftasche des Therapeuten etwas…), um die eigene Persönlichkeit mit allen daraus folgenden Handlungen bewusster und regelmäßig zu reflektieren. Das erfordert ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Ehrlichkeit – und wenn’s eng wird für einen selber, sind ein paar Gespräche mit einem erfahrenen Therapeuten/Supervisor hilfreich.

    Soweit meine unmaßgebliche Meinung.

    Mit kollegialen Grüßen
    Ernst

    Antworten
  • 10. Juni 2021 um 10:35
    Permalink

    Dass Tantra keine reine heile Welt ist scheint offensichtlich. Wegsehen, Schönreden, Schweigen oder mit pseudo-buddhistischen und pseudo-rationalen Erklärungen diese Missbräuche und Leiden und destruktiven Dynamiken klein- oder ganz wegreden ist keine Lösung.

    Antworten

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