Zunächst ist zu fragen, was ist ein Ritual überhaupt und was ist es speziell im Tantra. Wikipedia definiert es so: „Ein Ritual (von lateinisch ritualis ‚den Ritus betreffend‘, rituell) ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt.“
Gerade im Tantra wird der Begriff gern benutzt, manchmal auch etwas inflationär. Tantra braucht nicht notwendigerweise Rituale, denn Tantra findet ja für mich auch nicht nur im Seminar statt, sondern auch in meinem restlichen Leben. Aber sie erleichtern meiner Meinung nach das tantrische Sein und sie sind für mich ein ganz wichtiger Bestandteil und oft gar der Höhepunkt eines Seminars, sowohl als Teilnehmer als auch wenn ich in der Rolle des Leiters bin.
Für mich sind sie gekennzeichnet durch einen festen Ablauf. Dazu gehören für mich immer das Einladen von Kräften, die mich in meinem Ritual unterstützen können (Achtsamkeit, Verspieltheit, Vertrauen, Präsenz, um nur einige zu nennen), das Ehren des Gegenübers sowie das Besprechen von Grenzen am Anfang. Es braucht diesen klaren, gemeinsamen Beginn und ein klares, gemeinsames Ende mit Austausch, Bedanken und Verabschiedung, idealerweise durch ein/e Leiter/in, der/ die den Raum hält. Dieses klare Ende kann sowohl Segen als auch Fluch sein. Es kann mir einerseits Sicherheit geben, wenn ich weiß, ich bin an meine/n Ritualpartner/in „danach“ nicht mehr gebunden, andererseits ist manchmal der Wunsch vorhanden, dass „es danach mit ihm/ ihr weitergehen möge“. Aber ein Ritual ist eine Verabredung auf Zeit und es gibt keine Verpflichtung für die Zeit nach dem Ritual.
Wichtig ist die Vereinbarung, für die Zeit des Rituals miteinander da zu sein und zu bleiben, was nicht heißt etwas aushalten zu müssen und zu hoffen, dass es bald vorbei ist. Während des Rituals aufkommender Unmut kann und soll durch vereinbarte Zeichen geäußert und darüber in Austausch gegangen werden. Es gibt ja die Haltung „dein/e aktuelle/r Ritualpartner/in ist genau die/ der Richtige. Da ist etwas dran, denn ich kann grundsätzlich mit jeder/m Partner/in Erfahrungen machen und mich weiterentwickeln. Es steht ja auch nirgend geschrieben, dass ein Ritual immer eine schöne, sinnliche Erfahrung sein muss. Oft gibt es aus einem scheinbar zunächst „schlecht“ verlaufenen Ritual mehr zu lernen als aus einem „guten“. „Gut“ und „schlecht“ stehen in Anführungszeichen, weil es ja Be-Wertungen sind, die sich oft nach dem richten, ob meine im Vorfeld vorhandenen Erwartungen erfüllt wurden oder nicht. Und manchmal gibt es ja auch mehr als eine/n Ritualpartner in Dreier- oder Vierer- oder noch-mehr-Ritualen, mit dem/ der man in ein und derselben Begegnung unterschiedliche Erfahrungen machen kann.
Während des Rituals kann der Ablauf mehr oder weniger vorgegeben werden, z.B. Berührung nach Anleitung oder freie Berührung. Ein tantrisches Ritual muss auch nicht zwangsweise aus Berührungselementen bestehen. Es sind auch Rituale ohne jede körperliche Berührung möglich. Ich persönlich gebe, wenn ich anleite, mehr Freiheiten und halte eher den Rahmen. Die oben erwähnten Punkte (klarer Beginn, klares Ende, Ehren, Kräfte einladen) sind für mich aber essentiell.
Ein Ritual unterstützt mich als Teilnehmer in meiner Präsenz und meiner Zentrierung. Dadurch kann so etwas wie ein heiliger Raum entstehen, der mit Ritualen aus anderen Zusammenhängen vergleichbar ist. Auch Religionen kennen ja Rituale, aber für mich ist Tantra keine Religion, sondern eine Grundhaltung dem Leben gegenüber. Rituale sorgen auch für einen gewissen „Wiedererkennungswert“, da sie immer ähnlich ablaufen. Dadurch vermitteln sie auch Sicherheit und ein Zugehörigkeitsgefühl. Tantra ist für mich mehr als ein tantrisches Ritual, so wie ja auch Tantramassage nur ein Teil von Tantra ist. Aber ein wichtiges Element sind Rituale im Tantra für mich absolut.
Text: Norbert Seipel
Webseite: www.prano-tantra.de