Statistiken zeigen, dass alte Menschen zu den am meisten diskriminierten Gruppen weltweit gehören. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO hat global jeder zweite Mensch jüngeren Alters Vorurteile gegenüber älteren Menschen. Gerade auch die sexuellen Bedürfnisse alter Menschen werden nicht wirklich wertgeschätzt, denn wir erliegen oft dem Glaubenssatz, dass das sexuelle Begehren und die sexuelle Potenz im Alter biologisch immer mehr abnehmen würden. Das höre ich auch immer wieder von Menschen im so genannten Seniorenalter, die mich das erste Mal wegen sexualtherapeutischen Fragen konsultieren und eine Therapie beginnen. Diese Behauptung ist wissenschaftlich längst widerlegt. In Wirklichkeit verstricken wir uns im Laufe unseres Älterwerdens zunehmend mehr in den unklaren Wahrnehmungen unserer persönlichen Lebens- und Liebesgeschichten. Dieser Umstand macht uns mit den Jahren und Jahrzehnten mutloser und kränker.

Während ich über das Thema nachdenke, kommt mir mein Großonkel Thomas Mann in den Sinn.

Heinrich und Thomas Mann, 1902

„Denn auch das machen die Tagebücher deutlich: Thomas Mann hat seine Sexualität ein Leben lang als Schwäche, Krankheit, Versagen empfunden; nur nahezu vollkommenes Entsagen schien ihm der einzig erträgliche Umgang mit der eigenen Natur. Und der Schriftstellerberuf mit all seinen Verzichten und Entbehrungen war die Antwort, die seine Veranlagung rigoros verlangte.“

Das schrieb die Zeitschrift Spiegel im Jahr 1991, dem Erscheinungsjahr von Thomas Manns späten Tagebüchern.

Im Gegensatz dazu hat mein Großvater Heinrich in seinem dreibändigen Roman „Die Göttinnen“ bereits im Jahr 1902 eine starke und kluge Frau beschrieben, die ihre Liebe und Sexualität mit großer Neugier und Lebensfreude genoss, … die sogar in sehr fortgeschrittenem Alter sowohl gleichaltrige wie auch junge Liebhaber und Liebhaberinnen hatte und ihre sexuell promiskuitive Freizügigkeit selbst am Sterbebett nicht bereute.

„Ekstase ist, wenn du auf deinen Schatten tanzen kannst.“

Das sagte meine Lebensgefährtin Suriya gestern zu mir, als ich ihr von meiner Idee, diesen Text zu schreiben, erzählte.

Diese poetisch umschriebene Weisheit der tantrischen Philosophie drückt aus, worum es in der menschlichen Sexualität heute geht: um das lebenslange Zurückfinden zu unserer eigenen sexuellen Natürlichkeit.

Einer Natürlichkeit, die ekstatischer ist, als wir es uns in unserem sexuellen Alltag jemals vorzustellen wagen… einer dem Menschen genetisch veranlagten Natürlichkeit, die ihm von einer sich weltweit ausbreitenden Kultur der sexuellen Unterdrückung seit vielen Jahrtausenden mit Nachdruck aberzogen wurde. Mit all den epigenetisch vererbten Folgen, welche unser Unbewusstes, unsere Lebenshaltung und unser Liebesleben bis heute noch negativ beeinflussen, inklusive der – sehr betroffen machenden – weltpolitischen Auswirkungen dieses uns seelisch und körperlich krankmachenden Zustandes.

„Gängige Theorien zur Evolution des Menschen basieren überwiegend auf der Annahme, dass sich der Mensch aus einem schimpansenähnlichen Vorfahren entwickelt hat. Dass Bonobos, die Schwesternart der Schimpansen, genauso eng mit uns verwandt sind wie diese, wird dabei oft außer Acht gelassen.“

Das schreibt der Primatenforscher Tobias Deschner von Max-Planck-Institut für evolutionäre Biologie in Leipzig.

Die Bonobos leben friedlich miteinander, haben jeden Tag viel Sex (siebenmal mehr als die Schimpansen) und die Frauen dieser Affenart werden respektiert und leben ihre Promiskuität bis ins hohe Alter schamlos aus, genauso wie auch die Männer der Bonobos, die der berühmte Primatologe Frans de Vaal in seinem gleichnamigen Buch „die zärtlichen Menschenaffen“ nennt.

Junge und alte Bonobos paaren sich ohne die uns Menschen eigene Sexualscham, voller Lebensfreude miteinander, auch bisexuell. Auch die „Stammeschefin“ (das Alphatier) – die Großmutter – ist mit den jungen Gruppenmitgliedern sexuell.

Die männlichen Schimpansen hingegen leben patriarchal, dominieren die Frauen, nötigen diese gelegentlich auch mit Gewalt zum Sex. Insgesamt sind Schimpansen viel aggressiver als die Bonobos, bis hin zum Genozid, den die berühmte Primatologin Jane Godall im afrikanischen Dschungel beobachtete.

Die Bonobos wandeln jeden Anflug von Aggression in sinnlich sexuelle Handlungen um, welche sofort die Situation befrieden. Sex ist bei dieser Primatenart, die mit uns Menschen 98,4 % der Gene gemeinsam hat, ein Mittel zur lustvollen Konfliktbewältigung.

Affenforscher haben das intensiv bis ins Detail durch Beobachtung dieser beiden wild lebenden Menschenaffenarten erforscht.

Shiva Nataraj – König des Tanzes

Shiva Nataraj

„Ekstase ist, wenn du auf deinen Schatten tanzen kannst.“

In der hinduistisch tantrischen Ikonographie wird dieser Satz durch den Shiva Nataraj ausgedrückt, einer in Kunstwerken dargestellten Gottheit, die voller Lebensfreude das Leben genießt, auf dem Zwerg der Unbewusstheit tanzend, der unsere verdrängten Potentiale symbolisiert, unsere „Schatten“, wie es der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung ausdrückt.

Wörtlich übersetzt heißt der Name dieser die Lebenslust symbolisierenden Gestalt: „König des Tanzes“.

Wir tanzen unser Leben selten, eher ist das real existierende Leben für uns Menschen – selbst in aufgeklärten demokratischen Gesellschaften wie der unseren – eine Herausforderung voller Arbeitsstress und Liebeskummer. Und das alles ist für uns schon ein glücklicher Umstand, denn andere Teile der Weltbevölkerung leben täglich im Krieg und schwerer Armut, werden unterdrückt und herabgewürdigt oder gar gefoltert und ermordet.

Frauen werden weltweit bei weitem nicht so respektiert, wie es ihnen zustünde. Kein Wunder also, dass dabei die Lust auf Sex und unsere jugendliche Lebendigkeit im Alter abhandenkommt.

Anstatt in Harmonie leben Menschen oft ihr Leben voller unbewältigter Konflikte am Arbeitsplatz, im Privatleben oder gar auf Kriegsschauplätzen. Die psychosomatische Medizin hat durch zahlreiche wissenschaftliche Studien nachgewiesen, dass dies der wichtigste Grund für alle unsere Krankheiten ist, für chronische körperliche Schmerzen und für das Schwinden unserer Lebendigkeit im Alter.

In unseren tantrisch – sexualtherapeutischen Coachings und Massagen, in unseren Workshops und Ausbildungsseminaren des linkshändigen Pfades erleben wir häufig, wie Frauen und Männer im sogenannten „Rentenalter“ ihre Sexualität und ihre Liebesfähigkeit befreien, ihre Lebendigkeit wieder entdecken, ihre Lust steigern und sich sowohl mit gleichaltrigen als auch mit jungen Menschen in Liebe und Lust paaren, von der Scham befreit, wie die Bonobos.

In der Langsamkeit entdecken auch alte – in ihren bisherigen sexuellen Beziehungen enttäuschte – Menschen das Spüren von Moment zu Moment, das Wahrnehmen der ersten Lustfunken. Durch Langsamkeit enwickeln Frauen wie Männer Selbstvertrauen und Vertrauen in Andere und in den Prozess des sexuellen Erwachens. Nur so können dann die wilden orgasmischen Wellen in deren ganzer Fülle zugelassen und genossen werden. Eine achtzigjährige Teilnehmerin unserer Tantraworkshops erzählte mir, dass sie, nachdem sie sich in ihrer Sexualität befreit hat, auf privaten Sexparties den jüngeren Frauen vorgezogen wurde, weil sie in ihrer fließenden lustvollen Attraktivität strahlte.

„Liebe dich selbst, sei schamlos glücklich und beschenke Andere mit deiner Klarheit, deiner Fürsorglichkeit, deiner Liebe und deinem Mitgefühl.“ So oder ähnlich könnte das Motto für ein erfülltes lebendiges Leben lauten, für Menschen jeden Alters… bis zum Tod.

Diese These lässt sich zwar philosophisch begründen, das richtige Verständnis der Zusammenhänge erschließt sich jedoch erst in der praktischen Erfahrung. Vor allem im sexuell schamlosen Rausch unseres Herzens können wir die tiefe Weisheit der uralten tantrischen Philosophie in ihrer Essenz ganz erfassen.

In unseren Tantramassageausbildungen und unseren Tantraworkshops hören wir oft von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass sie eine völlig neue Sichtweise ihres Liebes- und Sexuallebens erlangt haben, transformiert durch die Prozesse und Übungen in einem sicheren Raum… durch das morgendliche Tantra Yoga, bei dem sie ihren Körper erst richtig spüren gelernt haben… nachdem sie durch die herzöffnenden Prozesse bedingungslose Liebe und achtsame Zärtlichkeit erfahren haben und in den lustbefreienden Prozessen ihre ganzkörperlich multiorgasmische Potenz erforscht haben.

Abschließende Betrachtung

Was ist also, aus dem Blickwinkel der altindischen, lächelnden Selbsterkenntnislehre des Tantra betrachtet, mit dem ewigen Dilemma „alt versus jung“? Nun, es löst sich in Luft auf. Denn wer hat eigentlich entschieden, dass sexuelle Neugier und Attraktivität ein Verfallsdatum haben? Die Wahrheit ist: Begeisterung kennt kein Alter. Menschen in jedem Lebensabschnitt können sinnlich sein, experimentierfreudig und wunderschön begehrenswert. Vielleicht ist der wahre Generationenfrieden nicht nur eine Frage von Toleranz, sondern auch von geteilten körperlichen Begegnungen, von gemeinsam liebevoll genossenen Zärtlichkeiten oder auch von wilden, zutiefst berauschenden und erweckenden Flügen zum Regenbogen – frei von Schubladen, erfüllt von echter Präsenz.

Selbst die Wissenschaft nickt zustimmend. Schon nach 20 Sekunden Umarmung flutet unser Körper mit Oxytocin, dem Hormon für Vertrauen, Verbundenheit und Liebe. Und wenn wir gemeinsam (zu zweit oder zu mehreren) tanzen oder eine liebevolle Zeit miteinander verbringen, gesellen sich Dopamin & Co. dazu – die hormonellen Meister der Aktivität, neugieriger Begeisterung und, ja, sogar der Verliebtheit. Liebe und Verliebtheit können in jeder Phase unseres Lebens einander zärtlich die Hand halten… das Abenteuer der liebevollen Erweckung wartet auf uns in jedem Lebensabschnitt und es braucht nur unseren Mut, eingetretene Pfade zu verlassen, damit die Reise zu uns selbst beginnen kann.

Wer also dachte, dass Ekstase eine Frage des Glücks ist, irrt sich. Sie ist eine Frage der Praxis – und vielleicht auch der Bereitschaft, die oft allzu starre Selbsteinschätzung infrage zu stellen und sich selbst und das Leben mit leuchtenden Augen zu umarmen.

Es lohnt sich, unsere Schatten ans Licht des Bewusstseins zu bringen, um unser Leben freier und leichter zu tanzen. Diese Erkenntnis der modernen Psychoanalyse und der fortschrittlichen Neurowissenschaften nannten die alten Tantriker/innen Indiens den Weg der Selbsterkenntnis.

„Hüte dich vor deinen eigenen Selbstbildern, werde wie ein unbeschriebenes Blatt und befreie dich von deinen eigenen Selbstlügen …“, sagten buddhistische Tantrikerinnen im indischen Mittelalter – einer Blütezeit des tantrischen Buddhismus – zu ihren Schülern.

Menschen, die diese Gedanken zu ihrem Kompass im Leben machen, haben die Chance, auch im Greisenalter geistig wach, flexibel und körperlich gesund zu bleiben. Wenn wir das Tabu des asexuellen Alters auflösen, können wir unsere Liebe und Lust jeden Tag, jedes Jahr intensiv genießen, bis zum letzten Atemzug.

In meinem eigenen Liebes- und Sexualleben habe ich mich immer tiefer in meiner Liebes- und Lustfähigkeit kennen gelernt und kann also auch aus eigener Erfahrung bestätigen, dass Liebe, Lust, Lebensfreude und Genussfähigkeit im Alter zunehmen. Und die offene Beziehung, die ich mit Suriya lebe, unsere zweieinhalb Jahrzehnte lang tagtäglich gelebte Freiheit, Liebe und Lust auch mit anderen teilen zu dürfen, ein Herzensgeschenk, das wir uns beide gegenseitig gewähren, das alles hat uns über die vielen Jahre voller inspirierender und lehrreicher Erlebnisse emotional noch inniger mit einander verbunden. Und die Menschen, die uns in der Liebe nahekommen, werden von uns dankbar und treu zurückgeliebt. Treue als Lebenshaltung ist im Sinne der tantrischen Philosophie nicht auf zwei Menschen beschränkt, sondern Ausdruck unserer angeborenen Begabung, als „weise Menschenaffen“ (Homo Sapiens) in der Liebe beständig und verlässlich zu sein.

In meinem Buch „Hautgeflüster, der zärtliche Weltfrieden“ gehe ich auf diese Thematik noch detaillierter ein.

Jenseits aller Beziehungsideologien und amourösen Dogmen wartet eine Wahrheit, die so alt ist wie die Menschheit selbst: Unsere lustvolle, liebende Natur ist kein Privileg der Jugend oder der Paare mit Hochzeitsurkunde – sie gehört uns allen. Hinter unseren Ängsten und Schamgefühlen schlummern unsere unvorstellbar intensiven und transformierenden sexuellen Potentiale und warten darauf, von uns wachgeküsst zu werden…Wir können unsere natürliche Essenz Schritt für Schritt entdecken – als bewusste, achtsam lebende Singles, in einer aufrichtigen, fürsorglichen Lebenspartnerschaft mit einem oder mehreren Hauptpartnern, gerne auch umgeben von einem experimentierfreudigen, auf gemeinsame Erforschung und gemeinsames Wachstum neugierigen Freundeskreis. Vielleicht sogar eingebettet in eine tantrische Sangha (spirituelle Gemeinschaft von Praktizierenden), wo Ekstase und Philosophie aufeinandertreffen wie alte Geliebte.

Denn Tantra lehrt uns eine Liebeskunst, die weit über das Gewöhnliche hinausgeht: die Fähigkeit, mehrere – und am Ende vielleicht sogar alle – Menschen aus dem Herzen zu lieben, frei von Bewertungen, beziehungssoziologischen Verordnungen und dem Irrglauben, dass sich Leidenschaft und Weisheit ausschließen. Im Gegenteil: Je mehr wir lieben, desto klüger werden wir. Und mit jedem Jahr, das unser Körper durchwandert, kann unsere sexuelle Genussfähigkeit – anstatt zu schrumpfen – wachsen – wie ein gut gepflegter, weiser, aber immer noch überaus fruchtbarer Garten.

Wenn wir das Forschen mit unschuldiger Neugier und einem Humor betreiben, der uns immer wieder über uns selbst schmunzeln lässt, wird jede Entdeckung ein Fest – eines, das mit den Jahren nicht leiser wird, sondern – im Gegenteil – tiefer, intensiver ausgekostet. Stell dir eine Welt vor, in der alte Menschen bis zum allerletzten Kuss ihre ganzkörperliche Zärtlichkeit und ihre sexuellen Freuden genießen – in authentischer Selbstliebe und in seelischer und körperlicher Harmonie mit allen Generationen. Keine einsamen Herzen, kein Liebeskummer, kein künstliches Wegsperren gelebter Liebeslust hinter gesellschaftlichen Tabus.

Vielleicht würde eine Gesellschaft, die diesen Pfad wählt, auch ihre Entscheidungen neu überdenken und ihre jungen und alten Anführer/innen würden diesen Prozess – im Zustand ihrer sinnlich gelebten Lebendigkeit – begeistert unterstützen – auf Augenhöhe mit allen Beteiligten. Vielleicht würde sich dann die Weltpolitik weniger um Angst, Krieg und Kontrolle drehen – und mehr um Ekstase, Berührung, Einfallsreichtum und das tiefe, lachende Wissen, dass wir alle eins sind und dass wir auf unserer wunderschönen Mutter Erde – in fühlbarer Herzensverbundenheit mit ihren tierischen und pflanzlichen Bewohnern – befreit von all den verstaubten Dogmen und Ideologien der Vergangenheit – unser sinnliches und sinnerfülltes Leben – kreativ – zum Wohle Aller – gestalten können.

Ich möchte mit einer Anekdote enden, die ich vor Jahren in der Zeitschrift GEO entdeckt habe: Eine vor Lebenslust strotzende hundertzwanzigjährige Freundin des Malers Vincent Van Gogh saß in einem Strandkaffee in Nizza. Ihr gegenüber saß ein junger Journalist, der sie – besorgt um ihr Alter – fragte: „Oh Madame, werde ich sie nächstes Jahr hier wiedersehen?“ Daraufhin musterte sie seinen Körper von oben bis unten und antwortete fröhlich: „Aber warum denn nicht, sie sehen doch noch ganz gesund aus.“


Text: Saranam Ludvik Mann

Webseite: https://diamond-lotus.de

Wenn Du auf deinen Schatten tanzen kannst …
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