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Sexualität hat viele Facetten

Sexualität hat viele unterschiedliche Ebenen und Facetten. Einige sind bekannt, andere nur wenigen bewusst. Tantra kann dazu beitragen, Sex als mehrdimensionales Geschehen zu erleben und erfüllenden Ausdruck darin zu finden. Es lohnt sich, zunächst verschiedene Ebenen zu unterscheiden (nicht zu trennen!), um die Komplexität sexuellen Erlebens zu erfassen.

Hier beispielhaft einige Ebenen, die beim Sex eine wichtige Rolle spielen können:

  • Wir genießen die Sinnlichkeit unseres Körpers bis hin zu orgastischem Vergnügen.
  • Wir tauschen intensive Gefühle aus, wir geben und empfangen Liebe.
  • Wir spielen mit Energien und Polaritäten (wie z.B. der von weiblich und männlich).
  • Wir erleben Sex als Sprache, als intime Kommunikation, die uns einander nahe bringen und in wahrhaftigen Kontakt führen kann.
  • Wir gestalten unsere Bedürfnisse nach Bindung und Zugehörigkeit und balancieren sie mit den Bedürfnissen nach Freiheit und Autonomie.
  • Wir werden kreativ, lassen uns von unseren Fantasien inspirieren und finden Ausdruck für unsere Einzigartigkeit.
  • Wir geben uns hin an etwas, das größer ist als wir selbst, wodurch Sex eine spirituelle Dimension bekommen kann.

Sex ist Fortbildung

Jede Ebene kann große Freude bereiten, beinhaltet aber auch spezifische Herausforderungen und Gefahren. Auf jeder Ebene brauchen wir spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten, von denen wir nur wenige von Natur aus mitbekommen. Sex ist im besten Falle stets eine Fortbildung. Wir brauchen niemals aufhören zu lernen, sondern können herausfinden, dass das Lernen selbst genussvoll sein kann – anders als das den meisten von uns in der Schule beigebracht wurde. Voraussetzung für freudvolles Lernen ist, dass wir unsicher sein und „Fehler“ machen dürfen. Erfüllung im Sex hängt nicht davon ab, irgendwelche Ziele zu erreichen oder erotische Skripte abzuarbeiten, wie es z.B. die Sexualforscher Master und Johnson mit ihrem 4-Phasenmodell vorschlagen: Erregungs-, Plateau-, Orgasmus- und Rückbildungsphase. Für mich klingt das ziemlich trist, wie das Programm einer Waschmaschine.

In jedem Moment innehalten können

Ob wir unbewusst auf Ziele fixiert sind, können wir daran ermessen, inwieweit wir in sexueller Aktivität – ob nun allein oder mit Partner*in – jederzeit innehalten oder sie gar beenden können. Eine aufregende Übung geht so: immer wieder mal innehalten, vor allem kurz vor dem Höhepunkt. Sollte dich das frustrieren, zeigt das wahrscheinlich tiefsitzende Konditionierungen an, deren nähere Erforschung sich lohnt. Wenn du dir nicht vorstellen kannst, dass diese Praxis lustvoll sein kann: Unter Fans ist sie als Edging bekannt. Sie verschafft uns auch die Freiheit, unseren Focus wechseln zu können: Bin ich mit mir im Kontakt? Mit dir? Wie fühlt sich mein Körper an, wie mein Herz? Erlebe ich den Kontakt als erfüllend oder wäre es hilfreich, andere Ebenen mehr einzubeziehen?

Chancen und Risiken tantrischer Sexualität

Auch in Tantraschulen werden sexuelle Skripte gelehrt wie Slowsex oder Tantramassage. Sie können uns wertvolle neue Dimensionen sexueller Erfahrung erschließen. Nach anfänglicher Horizonterweiterung können sie uns aber auch wieder einengen und neuen Stress bereiten à la „Wer ist der tantrischste Lover im Land?“ Hier ein paar Beispiele:

  • Absichten loszulassen kann enorm befreien. Es kann aber auch selbst zur neuen Absicht werden, aus der heraus wir dann z.B. zielgerichtetes Begehren abwerten.
  • Ganzkörperliche oder multiple Orgasmen und sexuelle Ekstase können eine Pforte zum Himmel öffnen. Wenn wir aber unmerklich entsprechende Erwartungen aufbauen, können wir leicht den Moment und den Partner aus dem Blick verlieren … was diesen womöglich in Hölle oder Fegefeuer befördert.
  • Wir können lernen, ganz im Hier und Jetzt zu sein, eine Kernkompetenz für sexuelle Erfüllung. Dabei können wir jedoch blind werden für die bewusste Steuerung unserer Bindungsbedürfnisse, die stets auch mit Vergangenheit und Zukunft zu tun haben.
  • Wir können lernen, tiefer loszulassen und uns hinzugeben, dabei aber den Zugang zu Verantwortung, Fantasie oder Kreativität verlieren.
  • Wir können unser Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit erweitern. Viele Tantriker bleiben dennoch in einer Form von Bipolarität gefangen. Das finde ich schade, denn unser sexuelles Potenzial ist multipolar. Wir können Sexualität auf vielfältige Weise gestalten, vergleichbar der Tonqualität bei einem Mischpult, bei dem es nicht nur einen Regler, sondern eine ganze Reihe davon gibt. Unser sexuelles Erleben bekommt mehr Facettenreichtum, Höhen und Tiefen.

Sexueller Anfängergeist

Soviel wir auch lernen mögen, es lohnt sich, immer wieder zum Anfängergeist zurückzukehren, wie er im ZEN genannt wird. Indem wir unser Wissen loslassen, bewusst Risiken eingehen und uns unsicher und verletzlich zeigen, kann aus Scham Charme werden. Und je mehr wir Sex als Sprache verstehen, desto weniger erleben wir schlechten Sex. Dieser wird zur wertvollen Ent-täuschung und führt zu mehr Wahrhaftigkeit – wenn wir sie denn an uns heranlassen. Wahrhaftigkeit mit uns selbst und miteinander ist – einfühlsam zum Ausdruck gebracht – ein wunderbares Aphrodisiakum und der vielleicht wichtigste Schlüssel, der Sexualität und sexuelle Beziehungen erfüllend werden lässt. Die Erweiterung unseres Repertoires geschieht dann wie von selbst und wir navigieren auf ruhiger wie hoher See lustvoll durch die Wellen erotisch-sexuellen Erlebens.

Text: Saleem Matthias Riek

Website: www.schule-des-seins.de

Sex ist keine Waschmaschine
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Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist 1959 geboren, Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge, Buchautor und lebt bei Freiburg im Breisgau. Seit 1986 erfolgreiche therapeutische Arbeit mit Einzelnen und Gruppen, seit 1992 mit den Schwerpunkten Liebe, Erotik, Paarbeziehung und Tantra, seit dem Jahr 2000 auch in der Ausbildung von Gruppenleitern tätig. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Weitere Bücher, darunter ein Roman, sind in Vorbereitung.

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One thought on “Sex ist keine Waschmaschine

  • 22. Oktober 2020 um 10:47
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    Danke für die wunderschöne Inspiration (nicht nur, doch auch), achtsam immer wieder den Anfängergeist einzuladen

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