Nur 10 Minuten
Neulich fragte mich ein Bekannter, ob die ganzen Tantra-Seminare eigentlich irgendwas in meinem Alltag verändert hätten. Er selber habe letztes Jahr an ganz vielen Tantra-Workshops teilgenommen und da zwar endlich mal Frauen kennengelernt, mit denen er sich sexuell ausleben konnte (was auch sein Hauptmotiv gewesen sei), aber ansonsten hätte ihm das überhaupt nichts gebracht, weshalb er sich wieder von Tantra abgewandt habe. Ich musste nicht lange nachdenken, bevor ich antwortete: „Ja! Seit zwei Jahren klingelt mein Wecker zehn Minuten früher.“
Meine Mutter hat mir oft erzählt, dass ich als Kleinkind freudig glucksend in meinem Gitterbett gestanden und sie begrüßt hätte, wenn sie morgens müde in mein Zimmer kam, aber daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich erinnere mich nur daran, dass ich nie gerne aufgestanden bin. Als Kind nicht und als Erwachsene auch nicht. „Nur noch zehn Minuten!“ bat ich, wenn ich aufstehen und zur Schule gehen sollte, „Nur noch zehn Minuten…“ dachte ich, wenn ich zur Uni musste. Seit ich vor zwanzig Jahren einen Mann mit Kind kennenlernte und dann selber Mutter von insgesamt drei Kindern wurde, hat sich meine Lage dramatisch zugespitzt, denn sie alle waren bis zur Pubertät geborene Frühaufsteher „Nur noch zehn Minuten!“ murmelte ich, wenn sie frühmorgens putzmunter an meinem Bett standen, aber das änderte nichts daran, dass ich jeden einzelnen Tag lange vor meiner Zeit aus dem Schlaf gerissen wurde. Was für eine Zumutung! Was für ein grausames Schicksal!
Dazu nahmen sie keinerlei Rücksicht auf meine beklagenswerte Verfassung, sondern bestürmten mich augenblicklich mit Fragen, Wünschen, Befindlichkeiten und Bedürfnissen. Wenn wochentags endlich alle mit Sack und Pack aus dem Haus waren, war ich erschöpft wie nach einem Marathon und verkroch mich oft erst mal wieder im Bett, um nachzuholen, worum ich betrogen worden war. Ich fühlte mich fremdbestimmt und um mein Menschenrecht gebracht, meinem ureigensten inneren Rhythmus zu folgen. Am Wochenende bot ich meinem Mann alles Mögliche an im Tausch gegen die Zusage, bis zum Frühstück im Bett bleiben zu dürfen. Nichts stand bei mir so hoch im Kurs wie diese zwei Stunden, die ich alleine im Bett verbringen konnte, während auf der anderen Seite der Schlafzimmertür der familiäre Trubel begann. Es ging schon gar nicht mehr ums Schlafen, das Ausschlafen hatte mein Körper lange verlernt, es ging um einen selbstbestimmten Start in den Tag.
Vor zweieinhalb Jahren besuchte ich mein erstes Tantramassage-Seminar und merkte, wie gut es mir tat, den Tag achtsam und bewusst zu beginnen. Wir trafen uns um acht zu einer Bewegungsmeditation und schon am zweiten Tag stand ich früh genug auf, um davor noch einen Becher Tee zu trinken, alleine auf einer Bank mit Ausblick auf die Landschaft. Das war besser, als bis zum Anschlag im Bett zu liegen, stellte ich fest. Aber hier war es ja einfach: ich war alleine, der Tee war fertig und die Meditation wurde angeleitet – kein Vergleich zu meinem Alltag zu Hause. Auch auf dem zweiten Seminar merkte ich, wie anders mein Tag begann, wie zauberhaft diese Zeit am Morgen sein konnte, die ich sonst damit verbrachte, mich von einer Seite auf die andere zu wälzen und damit zu hadern, dass ich nicht ausschlafen konnte.
Wieder zu Hause versuchte ich, mit meinem Ausbildungsleiter einen Termin zum Telefonieren zu finden, um ein paar Fragen zu klären. Meine Jüngste war gerade eingeschult worden und hatte täglich nur zwei Stunden Unterricht, daher sagte ich, ich hätte nur morgens bis 9.30 Zeit. „Ich mache erst ab 10 Uhr Termine, die Zeit davor brauche ich, um in den Tag zu kommen und zu meditieren.“ erwiderte er. Ich war empört! Wie himmelschreiend ungerecht war das denn bitte?? Er nahm sich bis 10 Uhr Zeit, um seinen Tag zu beginnen und ich musste als Mutter und Hausfrau bis dahin schon 1000 Dinge erledigt haben, die nichts, wirklich gar nichts mit mir und meinen Bedürfnissen zu tun hatten! Ich hatte keine Chance! Kein Wunder, dass ich irgendwie neben meinem Leben herlief, dass ich mit nichts vorankam und chronisch unglücklich und unzufrieden war!
Doch auf den Seminaren hatte ich immer wieder erlebt, dass ich viel mehr Einfluss auf mein eigenes Befinden habe, als ich jemals gedacht hatte, weil ich meine Wirklichkeit durch mein Bewusstsein selbst kreiere. Ich konnte nichts daran ändern, dass ich früh aufstehen musste, aber ich überlegte, was passieren würde, wenn ich das frühe Aufstehen nicht mehr als Lizenz zum Unglücklichsein benutzen würde. Ich suchte nach Spielräumen, statt mich als Opfer der Umstände zu sehen. Eine Tasse Tee am Morgen hatte mir gutgetan, die Meditation auch. Wie konnte ich das in mein Leben holen? Bislang war meine Jüngste immer vor mir wach geworden, egal wann mein Wecker klingelte, aber seitdem sie zur Schule ging, wachte sie erst auf, wenn ich sie weckte. Wenn ich morgens Zeit für mich haben wollte, musste ich mir diese Zeit davor nehmen.
Ich tat also etwas absolut Wahnwitziges: ich stellte meine Wecker-App zehn Minuten früher als nötig. Dann suchte ich nach einer Musik, mit der ich gut in den Tag kommen könnte und entschied mich für ein Lied, zu dem wir im Seminar eine wunderschöne Herzmeditation gemacht hatten. Abends kochte ich mir grünen Tee und stellte ihn in einem Thermobecher auf meinen Nachttisch. Am nächsten Morgen erklang eine Melodie, mit der ich schöne Erinnerungen verband. Ich setzte mich im Bett auf, trank ein paar Schlucke Tee und saß zehn Minuten mit geschlossenen Augen. Ich atmete, sah meiner Seele beim Aufwachen zu und war einfach nur ich selber. Dann stand ich auf und der Tag war mein Freund. Ich hatte mir Zeit dafür genommen, bei mir selber anzukommen, bevor mein Alltag auf mich einstürmte. Ich war keine Getriebene mehr. So machte ich es fortan jeden Tag.
Jetzt, wo ich es hier aufschreibe, klingt es wie ein Wunder, aber diese zehn Minuten haben mein Leben sehr verändert. Sobald die ersten Töne der inzwischen wohlvertrauten Melodie erklingen, erinnere ich mich daran, dass ich mich dafür entschieden habe, den Tag in dieser Weise zu beginnen. So wie ich mich entschieden habe, mein Leben so zu leben, wie ich es lebe, mit meinen Kindern. Natürlich ist es nicht in allen Teilen so, wie ich es mir wünsche, eine Menge äußerer Faktoren wirken darauf ein, manche kann ich verändern, andere nicht. Aber es ist mein Leben, es ist das Leben, was ich habe und es ist meine Entscheidung, welche Haltung ich dazu einnehme.
Text: Hanna Krohn
Website: www.hannakrohn.de