Wenn alles sein darf … warum nicht auch Gruppensex?
Maithuna als rituelle sexuelle Vereinigung findet in verschiedenen Kontexten ihre Anhänger und hat historische Wurzeln in Indien. Die Praxis stellt damals wie heute einen Tabubruch dar, auch wenn umstritten ist, inwieweit damals die Vereinigung tatsächlich physisch vollzogen wurde.
Rituelle sexuelle Vereinigung, dann auch noch im Rahmen einer Gruppe, womöglich sogar jeder mit jedem? Was dem einen glänzende Augen oder heiliges Erschauern verschafft, kann bei anderen blankes Entsetzen auslösen. Viele Reaktionen sind möglich, wenn die Mutter aller tantrischen Klischees zur Sprache kommt: Shiva und Shakti in sexueller Verschmelzung.
Was macht Sex jenseits zweisamer Schlafzimmergewohnheiten so vielversprechend und gleichzeitig so hochprovokant? Er hat definitiv das Potenzial, uns über unsere individuellen und kollektiven Grenzen hinaus in neue Erfahrungsräume zu befördern, nach denen wir uns vielleicht zutiefst sehnen. Er kann uns aber auch auf schmerzhafte Weise mit unseren Defiziten konfrontieren und uns vielleicht sogar (re-)traumatisieren.
Angesichts dieses Spektrums ist es naheliegend, dass Maithuna höchst unterschiedlich bewertet wird, oft allerdings ohne nähere Kenntnis. Um sich vor krassen Vorurteilen zu schützen, verwahren sich viele Tantriker*innen gegen den Ruf, im Tantra ginge es vornehmlich um Sex oder gar Gruppensex, Tantra sei ein ganzheitlicher Weg der persönlichen und spirituellen Entwicklung. Das stimmt. Aber wenn Tantra wirklich ganzheitlich ist und alles sein darf, warum dann nicht auch mal – als eine von vielen Erfahrungsmöglichkeiten – Gruppensex?
Die entscheidende Frage lautet für mich weniger: „Gruppensex ja oder nein?“ sondern: „Wenn ja, mit welcher Absicht und unter welchen Bedingungen?“
Davon auszugehen, eine Gruppe von Menschen – und sei sie auch noch so tantrisch fortgeschritten – sei reif für vollkommen selbstlose Begegnungen lauter Shivas und Shaktis (als reine Manifestationen des weiblichen bzw. männlichen Prinzips) halte ich für unrealistisch. Allein schon der Anspruch kann dazu führen, dass „niedere“ Motive, z.B. Ängste, alte Verletzungen, Fixierungen und Gelüste ins Abseits des Unbewussten verdrängt werden und dort zu inneren Spaltungen führen. Seminare mit Maithuna als fest versprochenem Bestandteil laufen meiner Ansicht nach Gefahr, das Faken tantrischer Expertise zu trainieren, anstatt Raum dafür zu schaffen, dem Leben in seiner Vielfalt und Unvorhersehbarkeit unmittelbar und wahrhaftig zu begegnen.
Einen sexuellen Erfahrungsraum auf der Basis von Freiwilligkeit, in dem sexuelle Vereinigung möglich, aber nicht Pflicht ist und in dem jede(r) zu jedem Zeitpunkt Grenzen setzen, aber auch eigene Grenzen überschreiten darf, kann durchaus zu befreienden und wegweisenden Erfahrungen führen. Möglicherweise wirken diese sogar bewusstseinserweiternd im Sinne des traditionellen Maithuna. Jetzt nicht als Anspruch, sondern als Geschenk.
Gruppensex nicht als vermeintlich höchste Stufe tantrischer Praxis, sondern im Anfängergeist (bekannt aus dem Zen-Buddhismus), mit Inspiration und Esprit, aber ohne feststehende Agenda, in einem gut geschützten Rahmen und offen für alle Themen und Befindlichkeiten, die dabei berührt werden: das hat Potenzial. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ich habe eigene Erfahrungen damit gemacht, die mich nicht immer beglückt haben, die ich aber auch nicht missen möchte. Statt tantrischer Ideologie wünsche ich uns einen offenen, undogmatischen und erfahrungsbasierten Austausch über dieses hochbrisante Thema.
Mehr zum Thema findest du im Kapitel „Heiliger Sex in ritueller Vereinigung“ in meinem jüngsten Buch „Mysterien des Lebens“.
Text: Saleem Matthias Riek
Website: www.schule-des-seins.de