In westlichen, auch modernen Anleitungen zur Sexualität wird der Orgasmus meist sehr betont. Im Gefolge der Entdeckungen des Freud-Schülers und Begründers der Bioenergetik Wilhelm Reich, der auch den Charakterpanzer und den orgasmischen Reflex erstmals wissenschaftlich beschrieben hat, ist das verständlich. Die Fixierung auf den Orgasmus wurde unter Reichianern und anderen ganzheitlichen Therapeuten allerdings oft übertrieben. Es passt eben zum westlichen Denken, Zielen zuzustreben und Höhepunkte zu erklimmen, da passt das Streben nach dem sexuellen Höhepunkt gut dazu.
Demgegenüber gilt die Zurückhaltung der Ejakulation des Mannes besonders im chinesischen Taoismus, aber auch im hinduistischen Tantra als zentraler Punkt des Glücks in der Liebe und auf dem spirituellen Weg. Im Westen findet man diesen Nachdruck auf der Zurückhaltung des Samenergusses nur noch in der Praxis des Karezza und natürlich heute in vielen der aus dem Osten importierten Wege.
Auch die Unterscheidung eines klitoralen und eines vaginalen Orgasmus kann man übertreiben. Schon so manchem Paar ist im Stress nach der richtigen Art des Orgasmus die Lust am Liebesspiel verloren gegangen. Im Tantra wird der Talorgasmus dem normalen Gipfelorgasmus gegenübergestellt: Das eilige Erstreben des Gipfels wird hier schlechter bewertet als das genüssliche Schwelgen im Tal. Die Frage ist aber, ob man die Talebene überhaupt noch als Orgasmus bezeichnen kann. Es gibt jedenfalls viele Landschaftsformen, Gipfel wie Täler, und alle haben ihre eigene Schönheit.
Dass die Ejakulation den Mann erschöpft und meist das Liebesspiel verkürzt, ist zweifellos richtig und ein wichtiger Punkt in jeder Liebesschule. Viele Frauen sind fähig, mehrfache Orgasmen zu erleben, man kann das auch kultivieren, es sollte aber nicht zum Fetisch werden. Ich kenne Frauen, die beim Lieben die höchsten Genüsse kennen und nie einen Orgasmus erfahren haben. Vielleicht ist es so, wie Jolan Chang (in Das Tao für liebende Paare) sagt: »Je hungriger nach Liebe wir sind, umso größer ist unsere Sucht nach dem Orgasmus, der uns dann aber ebenso wenig tief befriedigt, wie Schokolade ein Ersatz für richtige Ernährung ist.«
Und der indische spirituelle Lehrer Osho, der Tantra im Westen seit den 70er Jahren erst richtig bekannt machte, sagt: »Entspannt, legt euch zusammen hin und meditiert miteinander. Umarmt euch, meditiert zusammen. Ihr werdet überrascht sein, dass ihr bessere, orgiastischere, hinreißendere Momente erreichen könnt als beim Geschlechtsakt. Der ist sehr schnell vorbei. Findet neue Wege. Und das Finden von neuen Wegen ist Feiern … Für das neue Zeitalter, für den neuen Menschen, wird es auch neue Arten der Liebe geben, höher entwickeltere, kultiviertere.«
Im neueren, westlichen Tantra geht man dementsprechend vom Kult des Orgasmus zur Kultivierung des orgasmischen Erlebens über.
Auszug aus „TANTRA – Spiele der Liebe“ von
Sugata (Wolf Schneider), Gründer und ehemaliger Herausgeber der Tantra Specials und des Tantra-Newsletters. Seit 2020 Co-Leiter im BeFree-Tantra©. www.connection.de, sugata@connection.de