Spuren von Tantra
Als ich mich vor fast 20 Jahren auf den Selbsterfahrungs- und Selbsterkenntnisweg machte, hatte ich keine Ahnung, dass ich mich auf den Spuren von Tantra befand. (siehe auch „Sind Sie normal oder gesund?“)
Ich wusste nur, dass es für mich so nicht weitergehen konnte. Entweder würde ich mein Leben beenden – wofür ich zu feige war, oder ich würde etwas ändern: mein Leben nehmen wie es ist, ja dazu sagen und von dort aus weitermachen.
Nachdem ich bereits einige Jahre Mitglied in einem schamanischen Zirkel war und viele Rituale und Übungen kennengelernt hatte, die ich logischerweise der schamanischen Tradition zuschrieb, fiel mir das Tantra Praxisbuch von Margot Anand in die Hände. Und was ich dort las, kam mir teilweise bekannt vor.
Also fragte ich ganz unschuldig meinen schamanischen Lehrer: „sag mal, machst Du Tantra mit uns?“ und er antwortete nur mit einem Augenzwinkern, das ich für mich als ein „ja“ interpretierte. Tatsächlich hat eben dieser Lehrer in den folgenden Jahren auch Seminare angeboten, in deren Titel das Wort „Tantra“ zu lesen war.
Tantra ist überall
Tantra als esoterische Strömung des Hinduismus und Buddhismus ist viele tausend Jahre alt. Wie alt genau, darüber streiten sich die Experten und es kommt darauf an, welche der verschiedenen Richtungen von Tantra dabei untersucht wird. Ich will hier keine Definition von Tantra geben – denn darüber gibt es schon reichlich zu lesen und die Meinungen gehen auseinander. Vorsicht ist jedoch überall da geboten, wo jemand die einzig richtige und wirkliche Definition für sich reklamiert.
Spuren von Tantra
Wenn also das Gedankengut, welches wir heute unter dem Begriff „Tantra“ zusammenfassen, sich über viele tausend Jahre entwickelt und verfeinert hat, so ist es auch wenig verwunderlich, dass Teilaspekte Tantrischer Philosophie auch andernorts auf dieser Welt in regionale esoterische Strömungen eingeflossen sind. Mit dem Hintergrundwissen über morphogenetische Felder ist es sogar erklärbar, dass philosophisches Gedankengut und anthropologische Erkenntnisse sich an mehreren Orten dieser Welt mehr oder weniger gleichzeitig manifestieren.
Im Folgenden greife ich beispielhaft einige Aspekte verschiedener therapeutisch-philosophischer Systeme auf und stelle sie in Beziehung zu den aktuellen mir bekannten Interpretationen von Tantra.
Rosenkreuzer
Rituale der Rosenkreuzer beginnen meist mit dem Zitat der Inschrift über dem Eingang des Apollo-Tempels zu Delphi „Erkenne Dich selbst“. Hier finden sich schon die ersten Spuren von Tantra als Weg der Selbsterkenntnis. Wie aber kann ich mich selbst erkennen? Zum Beispiel, indem ich meinen Körper bewusst bewohne und wahrnehme. Mit bewusstem Atem auch den letzten Winkel meines Körpers durch meine fokussierte Aufmerksamkeit belebe. Eine Übung in vielen „Tantra Seminaren“ und eine grundlegende Übung der Rosenkreuzer auf ihrem Selbsterkenntnisweg.
Reiki
In der Reiki Tradition macht sich der Ausübende zum „Kanal für Heilung“. Er atmet die Lebensenergie (Prana, Chi, Chuluaqui) durch sein Scheitel Chakra ein und durch seine Hände wieder aus. Die Lebensenergie durchströmt nicht nur ihn selbst, sondern fließt durch seine Hände in den Körper der empfangenden Person. Dabei muss der Gebende nicht wissen, was Heilung für den Empfänger bedeutet. Die Lebensenergie sucht sich ihren Weg. Dieser Vorgang ist gleichbedeutend mit der „Anbindung an das Größere“, wie sie in einigen Tantra Schulen als Ritualbestandteil zelebriert wird.
Schamanismus
Viele schamanische Rituale machen sich die Kräfte der Natur und der Elemente zunutze. Auf diese Weise gehen sie mit dem menschlichen Körper, der aus den gleichen Elementen besteht, in Resonanz. Und Rituale wirken ebenso kraftvoll auf die menschliche Seele. Hier haben sie oft initiatorische Funktion. Wie zum Beispiel das Feuerritual, in welchem der Initiant seine Anhaftung an weltliche Dinge und Beziehungen dem Feuer übergibt. Und im Feuer lässt er los was ihn hindert, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen.
Die Quodoushka-Teachings der amerikanischen Schamanen basieren auf der Annahme, dass die Sexualität die stärkste Lebensenergie ist. Die Vereinigung von Urgott und Urgöttin schafft neues Leben. Im Tantra erfolgt die rituelle Entpersonalisierung bzw. Transformation durch die gegenseitige Benennung als Shiva und Shakti.
Familienstellen
Beim Familienstellen ist es wichtig, dass sich der Leiter einer Aufstellung kein Bild davon macht, wie die Lösung aussehen könnte. Er hält einen absichtslosen Raum in dem sich die Lösung von selbst entwickeln und zeigen kann. Alles darf sein. Der Leiter lässt sich weder mental noch emotional involvieren. Er bleibt ohne Absicht, ohne Mitleid, ohne Bedauern und doch in Liebe mit dem, was sich zeigt. Auch hier Spuren von Tantra. Die Absichtslosigkeit stellt eine weitere Parallele zu den Grundsätzen vieler Tantra-Praktizierender dar.
Tantra vereint
Im Tantra sind aus meiner Sicht alle esoterischen Strömungen dieser Welt vereint. So schließt Tantra nichts aus: weder Geschlechtlichkeit, Rasse, Nationalität, Religionszugehörigkeit, Ansehen, Moralvorstellungen oder Glaubenssätze. Alles darf sein. Und alles darf sich transformieren durch Bewusstheit.
Im Tantra gibt es keine Tabus. Tabus hindern uns, in Freiheit und Selbstbestimmtheit zu leben. Das größte Tabu unserer Gesellschaft ist immer noch eine freie Sexualität. Hier liegt meines Erachtens ein Potenzial von Tantra, das über alle anderen Strömungen hinausgeht:
- Die Schaffung tiefgehender, liebevoller Beziehungen auf allen Ebenen (auch der körperlichen) geprägt von gegenseitiger Achtung und Respekt.
- Mein Gegenüber nicht nur als gleichwertigen Spiegel meiner Selbst anzunehmen, sondern mich selbst in ihm wahrzunehmen und zu erleben. In Dir begegne ich mir. Ich sehe mich in Deinen Augen. In der Vereinigung mit Dir komme ich in Kontakt mit meinem göttlichen Potenzial.
Selbstverständlich ist dieser Artikel nicht dazu gedacht, in die Tiefe zu gehen. Er ist in jeder Beziehung unperfekt und lückenhaft. Aber er will Impulse setzen, wie ein flacher Stein auf dem Wasser mit jeder Berührung neue Kreise anstößt. Und wenn mir das mit meinen Zeilen gelungen ist, dann hat sich die Zeit, diesen Artikel zu verfassen gelohnt.
Zu Risiken und Nebenwirkungen von Tantra lesen Sie ein paar Bücher und fragen Sie ihren Therapeuten oder Seminarleiter.
Text: Klaus Gabriel Peill
Webseite: www.quinta-essentia.de