Kürzlich las ich in einem deutschen Meditationszentrum wieder einmal den Spruch: „Es gibt keinen Weg zum Glück; Glücklichsein ist der Weg“, der dem Buddha zugeschrieben wird. Außer, dass die Aussage wie ein Zen-Koan anmutet, kann ich, wie vermutlich viele andere, insbesondere dem ersten Teil nicht zustimmen, demzufolge es keinen Weg zum Glück gäbe.
Zur Frage was Menschen glücklich macht, habe ich kürzlich ein interessantes Buch gelesen, dass versucht, den Themenkreis aus der wissenschaftlichen Perspektive zu beleuchten. Wie auch im fraglichen Buch, möchte ich hierbei im folgenden Glücksempfinden und Zufriedenheitsempfinden als im wesentlichen synonyme Begriffe betrachten, wobei möglicherweise Glücklichsein noch intensiver erlebt werden mag wie Zufriedensein. Wahrscheinlich in allen Zeitaltern haben sich Menschen damit beschäftigt, wie das individuelle Glücksempfinden gesteigert, Zufriedenheit erhalten, konserviert werden könnte. Und in den letzten Jahrzehnten widmen sich auch die Wissenschaften wie Psychologie und Soziologie in Zweigen ihrer Fachbereiche, der sogenannten Glücksforschung, vermehrt diesen Fragestellungen.
Den aktuellen Stand der Forschungen hat die amerikanische Psychologin Sonja Lyubomirsky in ihrem Buch Glücklich Sein für mein Empfinden spannend, fundiert und allgemein zugänglich zusammengefasst. Zwar hat sich herausgestellt, dass etwa die Hälfte unseres Basis-Glücksempfindens durch genetische Faktoren unabänderlich vorgegeben ist, aber nur etwa 10% durch allgemeine Lebensumstände wie Gehalt oder materielle Güter bestimmt sind, und diese Komponente nicht einmal zu anhaltender Steigerung des subjektiven Glücksempfindens führt. Nach einer begrenzten Phase des zufriedener Seins, fällt das Glücksempfindens wieder auf das ursprüngliche Basisniveau zurück. Auf der anderen Seite können die verbleibenden 40% von unserem eigenen Verhalten individuell beeinflusst werden, und so gewonnenes, positives Empfinden von Glück oder Zufriedenheit ist sogar leichter wieder aufzufrischen und auch beständiger.
Lyubomirsky hat glücksfördernde Verhaltensweisen in 12 Glücksstrategien unterteilt, die ich ohne ausführliche Erläuterungen hier auflisten möchte: 1. Dankbarkeit entwickeln; 2. Optimistisch sein; 3. Grübeln und soziale Vergleiche vermeiden; 4. Hilfsbereit sein; 5. Soziale Beziehungen pflegen; 6. Bewältigungsstrategien für Krisen entwickeln; 7. Vergeben lernen; 8. Flow-Erfahrungen schaffen; 9. Freuden des Lebens genießen; 10. Lebensträume verwirklichen; 11. Sich mit Religion oder Spiritualität beschäftigen; 12. Für den eigenen Körper sorgen. Nähere Einzelheiten und detaillierte Begründungen können in ihrem Buch nachgelesen werden. Dabei ist Lyubomirsky aber nicht der Ansicht, dass alle Strategien von jedem Menschen verfolgt werden sollen. Es reichen einige wenige als für einen passend empfundene Strategien aus, für manchen vielleicht nur eine einzelne Strategie, um das persönliche Glücks- oder Zufriedenheitsempfinden nachweisbar zu steigern.
Im Thema des diesmaligen Tantranetz-Blogs soll es aber nicht nur darum gehen, ob Glück „machbar“ ist, sondern insbesondere, was Tantra zur nachhaltigen Mehrung des Glücksempfindens beitragen kann. Im Lichte der obigen Glücksstrategien wäre also zu betrachten, inwieweit diese im tantrischen Miteinander, durch tantrische Übungen und Rituale, realisiert werden können. Bevor ich darauf ausführlicher eingehe, möchte ich zum besseren Verständnis noch kurz auf meine persönliche Auffassung von Tantra zu sprechen kommen, die ich auch in einem früheren Tantranetz Beitrag eingehender geschildert habe. Hauptintention des Tantra für mich ist die Liebe, in einem umfassenderen Sinne verstanden, als Verspüren von Verbindung, zu mir selbst, zu anderen Menschen, Lebewesen, zu Objekten der Natur, vielleicht sogar der Welt als Ganzem, anwachsen zu lassen.
In etwas wahlloser Folge möchte ich deshalb nun betrachten, wie einige der zitierten Glücksstrategien auch im Tantra eine maßgebliche Rolle spielen. Auch wenn tantrische Übungen alleine praktiziert werden können, und dies auch sehr bedeutsam ist, wie zum Beispiel in der Eigenliebe, lebt das Tantra doch besonders vom Miteinander, den tantrischen Begegnungen, und pflegt somit ganz selbstverständlich soziale Beziehungen zu fühlenden, empfindenden Wesen. Da auch Meditationspraxis im Tantra eine wichtige Rolle spielt, besteht eine natürliche Verbindung zur Spiritualität, und auch Flow-Erfahrungen können dort, oder bei allen anderen Übungen, zum Beispiel in der Massage, entstehen, sowohl beim Gebenden als auch beim Empfangenden. Wobei unter Flow der Übergang vom Tun zum Sein, in Absichtslosigkeit, verstanden werden kann. Für den eigenen Körper kann man auch in der tantrischen Praxis durch Yoga-Elemente sorgen, und ist nicht der Massage-Austausch eine wundervolle Weise sowohl den Körper des anderen zu nähren und zu ehren, als auch den eigenen, und dadurch gleichsam das Herz, die Seele. Durch all seine verschiedenen, mannigfaltigen, ineinandergreifenden Facetten, vermag das Tantra als schönen Nebeneffekt Hilfsbereitschaft und Dankbarkeit zu steigern, und nicht zuletzt, in lustvollen, liebevollen, Berührungen, besondere, freudvolle Lebensmomente zu schenken.
Ganz generell lässt sich aus den vorgestellten Glücksstrategien ersehen, dass Glücksempfinden, Zufriedenheit, weniger durch äußere Gegebenheiten beeinflusst ist, als mehr durch innere Einstellungen. Diese lassen sich im Verlaufe eines Lebens immer wieder anpassen, weiter entwickeln, und hierfür bietet das Tantra meiner Erfahrung nach viele grundlegende, tiefgehende Ansätze mit einer langen Tradition, die das Vermögen haben, Zufriedenheit, das Glücksempfinden, und die Liebe, nachhaltig anwachsen zu lassen.
Text: Matthias Jamin
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