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Tantra als Avantgarde der Bewusstseinsentwicklung?

Tantra gibt unserer Kultur und Gesellschaft wertvolle Impulse. Die vielfältige Tantraszene versteht sich gerne als eine Art Avantgarde bezüglich Bewusstseinsentwicklung, Liebesfähigkeit und erotischer Kompetenz. Leider wird Tantra von der Mehrheit der Bevölkerung wie auch von den etablierten Medien oft belächelt, gefürchtet oder rundweg abgelehnt. Liegt es daran, dass wir Tantriker unserer Zeit voraus sind?

Das glaube ich eher nicht, und Überheblichkeit wäre wohl auch keine zukunftsweisende Tugend. Aber werden wir konkret. Beim Thema dieses Newsletters – gleichgeschlechtliche Begegnungen – gehört Tantra sicher nicht zur Avantgarde der Bewusstseinsentwicklung. Zum Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit und zum Verhältnis der Geschlechter finden sich in der Tantraszene manchmal erstaunlich antiquierte Ansichten (darüber habe ich schon mehrfach geschrieben). Von Genderfluidität, wie sie beispielsweise in sexpositiven und queeren Kreisen diskutiert und auch praktisch gelebt wird, ist im Kontext von Tantra selten die Rede. Stattdessen ist es den meisten Anbietern von Tantraevents wichtig zu betonen, dass sie auf ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern achten. Das erinnert mich immer mal wieder an die gute alte Tanzschule.

Und ja, ich gebe es zu: Ich selbst achte in meinen Kursen auch auf ein ausgewogenes Verhältnis. Allerdings nicht, weil ich diese Herangehensweise für der Weisheit letzten Schluss halte, sondern ganz pragmatisch, weil eine deutliche Mehrheit der Teilnehmenden sich das dringend so wünscht. Anmeldungen von offen lesbischen oder schwulen Teilnehmerinnen und Teilnehmern oder von „nonbinären“ Personen habe ich zwar schon erlebt, aber sehr selten. Die gehen offensichtlich lieber woanders hin, wo sie weniger Außenseiter sind. Ich finde das schade, kann es aber verstehen.

Die Konfrontation mit dem eigenen Geschlecht

Es ist nicht leicht, im Rahmen von Tantraseminaren die Dominanz „heteronormativer Skripte“ in Frage zu stellen oder gar abzuschaffen. Protestieren – und sich dann nicht mehr anmelden – würden wohl vor allem Männer – nicht alle, aber wahrscheinlich viele von ihnen. Wenn es darum geht, wer mit wem eine Übung machen möchte, tun sich viele Männer schwer, einem anderen Mann offen zu begegnen; ganz besonders dann, wenn Berührung oder gar Erotik ins Spiel kommen. Frauen sind bezüglich gleichgeschlechtlicher Begegnungen meistens offener. Nicht zuletzt aufgrund meiner eigenen Perspektive fokussiere ich im weiteren Text vor allem auf Männer.

Was liegt den Widerständen gegenüber gleichgeschlechtlichen Begegnungen zugrunde? Homophobie? Vielleicht, aber wohl nicht nur. Männer sind in unserer Kultur nach wie vor weniger mit ihren Gefühlen und mit ihrem Körper verbunden. Im Kontakt mit Frauen können Männer ihr Defizit kompensieren, die „Energie“ der Frau bringt sie oft tiefer mit sich selbst und ihrer eigenen Empfindungsfähigkeit in Kontakt. Wenn sich zwei Männer begegnen, die sich beide mit dem Fühlen schwertun, potenzieren sich die Defizite und die Begegnung wird nicht selten spröde, oberflächlich oder verkopft.

Macht es überhaupt Sinn, dass Männer sich trotz ihrer Vorbehalte aufeinander einlassen, nicht nur mental, sondern sich auch emotional und körperlich berühren und diese Berührung gar genießen lernen? Aus eigener Erfahrung würde ich sagen: Ja! In meiner Lebensgeschichte war die Konfrontation mit meinem Mannsein im Spiegel anderer Männer ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung meiner Liebesfähigkeit. In meinen frühen Zwanzigern ging das so weit, dass ich einige Jahre lang tief in schwule Identität und eine schwule Community eingetaucht bin.

Das hat sich wieder verändert und meine Präferenz in sexuellen und Liebes-Beziehungen liegt schon lange wieder deutlich bei Frauen. Doch die „schwule Periode“ hat mich einiges gelehrt, was ich nicht missen möchte. Dazu gehört nicht zuletzt, dass ich vielleicht leichter nachvollziehen kann, was Frauen an Männern attraktiv finden, weil ich auch selbst Männer attraktiv finden kann.

Ist Sex mit sich selbst homosexuell?

Das Wichtigste ist aber wohl die Beziehung zu mir selbst, die unausweichlich homosexuelle Anteile enthält. Früher habe ich insbesondere homophobe Männer gerne mit der These provoziert: Wenn du Sex mit dir selbst hast, ist das homosexueller Sex. Wenn du Sex mit dir selbst genießt, hast du offensichtlich auch eine homosexuelle Seite in dir. Erstaunlich fand ich, wie überraschend oder gar verstörend diese banale Erkenntnis für viele Männer war. Ich vermute, dass viele Männer auf eine Weise masturbieren, in der ihr Bewusstsein von Frauenbildern absorbiert wird, sei es über sexuelle Fantasien oder Pornos. So kann es sein, dass sie sich dabei selbst gar nicht begegnen und nicht merken, dass sie einen Mann sexuell stimulieren.

Für ihre Vermeidungshaltung zahlen Männer einen hohen Preis: ein brüchiges Selbstbewusstsein als sexuelles Wesen, welches immer wieder von außen bestätigt werden muss, weil es sonst kollabiert. Früher oder später törnt das auch die meisten Frauen ab und stellt für erfüllende Begegnungen ein wesentliches Hindernis dar. Frauen wollen nicht unbedingt dafür zuständig sein, dass Männer sich im Bett als toller Hecht fühlen.

Auch Männer sind Menschen

In meinen Seminaren gibt es häufig Berührungs-Rituale zu viert, in denen zwei Frauen und zwei Männer zusammenkommen. Diese Konstellation ist nicht so konfrontativ wie gleichgeschlechtliche Begegnungen, wodurch sich auch Männer leichter darauf einlassen können. Dabei machen sie nicht selten bahnbrechende Erfahrungen, indem sie einen anderen Mann nah und intim miterleben können. Männer machen die grandiose Entdeckung, dass – etwas flapsig gesagt – auch Männer Menschen sind. Auch Männer sind verletzliche, empfindsame Wesen mit der Fähigkeit, das ganze Spektrum des Fühlens und Erlebens nicht nur im weiblichen Gegenüber, sondern in sich selbst zu entdecken und zu erleben.

Um auf das Oberthema dieses Newsletters einzugehen: Sind gleichgeschlechtliche Begegnungen im Tantra das Sahnehäubchen spiritueller Praxis? Ich würde – zumindest was Männer betrifft – eher von Schattenarbeit sprechen. Deren Potenzial ist deutlich größer als das eines Sahnehäubchens. Der Prozess geht mitunter ans Eingemachte, er kann an tiefe Wunden rühren, die gesehen und geheilt werden wollen. Doch die Mühe lohnt sich. Sie öffnet den Raum für eine tiefgreifende Transformation unserer Beziehungen, zu uns selbst, zu unseresgleichen und nicht zuletzt auch zum anderen Geschlecht.

PS: Kürzlich erschienen ist – mit 40 Jahren Verspätung – meine Diplomarbeit zum Thema Männer, in der es wesentlich um die Beziehung von Männern zu sich selbst und zueinander geht.

Text: Saleem Matthias Riek

Website: www.schule-des-seins.de

Gleichgeschlechtliche Begegnungen – eine Konfrontation mit dem eigenen Schatten
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Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist 1959 geboren, Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge, Buchautor und lebt bei Freiburg im Breisgau. Seit 1986 erfolgreiche therapeutische Arbeit mit Einzelnen und Gruppen, seit 1992 mit den Schwerpunkten Liebe, Erotik, Paarbeziehung und Tantra, seit dem Jahr 2000 auch in der Ausbildung von Gruppenleitern tätig. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Weitere Bücher, darunter ein Roman, sind in Vorbereitung.

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