Sind divers-geschlechtliche Erlebnisräume in Tantraritualen wirklich Sahnehäubchen spiritueller Praxis?
Für den Suchenden in seiner heteronormalen Welt – ja, wenn wir das für ihn Herausfordernde als Sahne betrachten wollen. Für den, der im Tantra bereits angekommen ist, sollte sich die Frage irgendwann erübrigen und einer Selbstverständlichkeit Platz machen für die Geschlechtlichkeit, sexuelle Prägung und Partnerbindung kein Gefängnis mehr darstellt, sondern deren Überwindung und Erweiterung zum Wesen seines Tantras wurde.
Als ich vor 20 Jahren meine Beratungsstätte zur optischen Harmonisierung von transidenten Menschen eröffnete, kam ich sehr schnell in Berührung mit den Schnittstellen zwischen Identitätsberatung und Tantra. Eigentlich war sogar die Erkenntnis, dass die Beratung von Menschen, die eben nicht in einen geschlechtlich geburtsbestimmten Kontext passen mit einer reinen optischen Beratung – z.B. von Trans*Frauen in Sachen Make-up, Frisur, Kleidung, Stil- und Bewegungstraining längst nicht genüge getan ist. Mit ein Grund warum ich mich während meiner Tantraausbildung schwerpunktmäßig schnell auf diese Zielgruppe einlassen konnte und nach 20 Jahren intensiven Arbeitens mit allen Lebens- und Liebesthemen transidenter und non-binärer Menschen meine Liebe zum Thema „unbeschränkte, tabulose Begegnung mit allem was ist“ ungebrochen brennt.
In den ersten Jahren meiner tantrischen Praxis habe ich mit vielen Individualisten und Gruppen von Menschen gearbeitet, für die eine homogene Einteilung in Shiva und Shakti, in Yoni und Lingam, in Yin und Yang nicht so einfach ohne weiteres möglich war – weder für diejenigen selbst, noch für Andere, und deshalb vielleicht – vom damaligen Gesichtspunkt aus – eine Hürde darstellte für Begegnung und Ritual des Neotantra.
Vielleicht lag das an der Zeit der Jahrtausendwende, vielleicht am neotantrischen-mainstreamigen Verständnis in der Verteilung von Polarität in einem heteronormativen Erziehungsmuster das nicht hinterfragt wurde, sicher aber vor allem daran, dass eine strickte Einteilung in Geschlechtszugehörigkeit und Orientierung in den Köpfen vieler Menschen eine gewisse Sicherheit bietet, wem oder was wir begegnen, welche Möglichkeiten uns damit zur Verfügung stehen und welche Erfahrungen wir letztendlich machen können. Alles, was da aus dem „Normalen“ rausfällt gefährdet das Fortbestehen unserer egozentrischen, inflexiblen Weltanschauung, die im sexuellen Bereich für einen breiten, angstvollen Tellerrand und weniger für abenteuerlustige, lernbegierige, flexible Lust sorgt. „Annehmen was ist“ bekommt da bei drohender Begegnung mit der dritten Art nochmal einen ganz anderen herausfordernden Beigeschmack, wo wir es doch mit der eigenen, gleichen Art sexuell und emotional schon schwer genug haben.
Sprüche wie: „Ich nehme nur Teil, wenn keine Transe dabei ist“ oder „Ich werde keinen Mann umarmen, ich bin doch nicht schwul“ oder „eine Frau die einen Schwanz hat gehört in die Männergruppe„ habe ich zwar schon einige Zeit nicht mehr gehört, Dies ist aber dadurch begründet, die gerade moderne, politische Korrektheit zu wahren, nicht etwa weil die Menschen schlagartig einen evolutionären Sprung hingelegt hätten und plötzlich ein Kästchen haben für den Käfer mehr, den uns eine Begegnung bietet die einfach mehr ist als die erprobt übliche zwischen Mann und Frau.
In diesem Fall lernt die Neotantraszene von gesellschaftlichen Veränderungen – und nicht etwa umgekehrt. Es gibt Hoffnung, aber auch noch viel Kampf. Nicht etwa offiziell, da ist es kein Problem, sich den Anstrich von liebevoller Offenheit zu geben, gleich ob es sich um Körperbehinderungen, Geschlechtsuneindeutigkeiten, Hautfarben oder die der meinen gleichenden Genitalienausstattung handelt.
Solange das fremde Objekt der Nichtbegierde nicht in meiner eigenen Ritualgruppe ist – alles gut! Auch wenn wir es uns selbst nicht eingestehen wollen, erinnert das doch irgendwie an die Schulbank, auf der der homosexuelle Junge von nebenan auch nur so lange ungestört sitzen kann, solange er eben nicht neben dem eigenen Sohn sitzt … Wo tantrische Begegnungen noch dazu missbraucht werden, im normalen Leben nicht geleistete Partnerwahl zu erhoffen, wo Bedürftigkeiten gestillt, Machtspiele gespielt und Selbstbeweihräucherungen betrieben werden, hat eben eine echte, liebevolle Begegnung mit dem Unbekannten im Gegenüber keine Chance die vorgefertigten, uneingestandenen Erwartungen zu erfüllen. Kein Wunder, dass die Schuld an den eigenen Missempfindungen gerne beim Gegenüber geparkt wird, anstatt die vielgepriesene Selbstverantwortlichkeit genau da anzuwenden, wo sie endlich mal als Lecture, Yappa und endgültigen Schritt heraus aus der eigenen Komfortzone gesehen werden könnte.
Geschlechtlichkeit ist nun mal kein Fixpunkt – nicht einmal linear – sondern ein ganzes Koordinatenfeld von Möglichkeiten der Ausprägung. Geschlechtliche Orientierung genutzt als Mittel zur bloßen Fixierung der Kompatibilität bietet daher in der erfrischend neuen, noch nicht einordenbaren Begegnung ebenso eine Fülle von Unsicherheiten und ist per se unentdecktes Neuland ohne Chance, daraus von einer zur nächsten Begegnung sicherheitsversprechende Ableitungen machen zu können. So wie das göttliche Selbst uneingeschränkt und bewusst herausfordernd im roten Tantra auch als Ardhanarishvara daherkommen darf. Halb Shiva halb Shakti bietet sich dem Befreiten, der Integrieren gelernt hat Erregendes und Wertvolles in den vereinten Gegensätzen. Es lebe die Chimäre unserer wildesten Phantasien, selbst wenn sie noch in den Gefängnissen unserer Dämonen hungert und als Schatten verachtet wird. Oh, wie wunderbar ist es miteinander ein Wesen mit zwei Schwänzen zu werden, frei von moralisch-mittelalterlichen Bedenken. Oben Brüste unten Lingam … von vielen Armen umschlungen bin ich von der Göttin und von ihren Yonis bezaubert … halb Mann, halb Pferd reizt die Gazelle das Wilde am Akt mit dem Hengstmann oder soll es lieber Pan sein mit Fuß, Horn und Bart des Bocks und seinem riesigen, griechischen Phallus? Die Phantasie und die allumfassende Liebe zu allem was ist fickt sowieso mit und die Realität unserer Begegnungen kann ihr das Wasser reichen, wenn wir es nur wollen und wagen.
Aber nein, wir denken noch nicht offen, unzensiert und vorurteilsfrei an das Göttliche in jedem von uns, auch wenn es so inflationär oft gegrüßt wird. Eher behandeln wir unsere wunderbar individuellen Menschen und Mitgeschöpfe wie die Attraktionen eines Jahrmarkts durch dessen Schmutz der Ideale auch schon viele Hautfarben gezerrt und mit deren Maß schon so mancher Mensch in seiner vermeintlichen Abartigkeit vermessen wurde, ohne den Anderen als wertvollen und einzigartigen Menschen zu verehren – und das trotzdem doch die Verehrung – neben der Beliebigkeit – ein zentrales, unübersehbares Thema des Tantra ist, ohne die eine rituelle Begegnung sowieso undenkbar tantrisch sein könnte. Wenn wir es stattdessen so machen wie wir es immer treiben, dann werden wir am Ende nicht mehr erleben als das, was wir schon kennen und zur Erweiterung im Sinne des Tantra nicht taugt.
Die Themen sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität passen also Dank ihrer Herausforderung und Provokation für jeden einzelnen Teilnehmer ganz hervorragend zum Thema Tantra und der Bewusstmachung und Aufarbeitung von Altlasten, Ängsten und Tabus. Wie wunderbar, dass es eine Lehre gibt, die nichts ausschließt, schon weiß dass wir einander Spiegel und Steigbügel sind, dass wir in Liebe vernetzt und eins sind, ob wir es schon glauben oder nicht und dass es nichts gibt was aufgrund seiner Existenz von mir nicht anerkannt wird als Potenzial zum eigenen Wachstum hinein in eine Liebe in deren Übungsfeld es heißt: „es soll mit jedem gehen.“
Schauen wir fernab vom gerade so modernen, tantrisch noch am Anfang stehenden Übungskontext unserer Unreife, Unsicherheit und dem noch ungenutzten Potential wirklicher Liebe und Entwicklung tief ins alte Tantra hinein, so erübrigt sich sowieso jegliche Unsicherheit, Ablehnung und jeglicher Ausschluss und sogar die Frage, die zu diesem Beitrag des Tantranetz geführt hat.
Tantra ist nicht nur das Wesen von Annahme, Güte und Liebe des Gegenübers als der Spiegel meiner Selbst, auch wenn das schon mal ein brauchbar-menschlicher Ansatz raus aus der Anklage und Opferrolle, hinein in die Selbstermächtigung ist. Eine wirklich Tantrische Begegnung bietet die Möglichkeit schlechthin den externen Beobachter einzusetzen und zu prüfen was wir wirklich vom Gegenüber halten, wo wir bereits frei agieren können und wo es noch Zwangshandlungen der Vermeidung sind, zu welchen Begegnungen wir schon bereit sind und was jeder einzelne Mensch auch selbst daraus noch zu lernen hat, wo sein nächster Übungsschritt zur Erweiterung seiner Möglichkeiten die Welt vollständig und ohne sich aus Angst ständig auszubremsen hingehen darf.
Da hilft nur die Praxis! Begegnen so intensiv und füllig wie möglich! Nicht sparen an neuen Erfahrungen! Rituell hinein ins noch Unbekannte, so bewusst wie kreativ, bis die ganze Welt der Möglichkeiten zum Wohlfühlbereich werden darf, in dem wir uns dann weder aus gleichgeschlechtlichen Begegnungen noch aus Uneindeutigkeiten der Körperausstattung, noch aus unausgewogenen Geschlechterkonstellationen mehr herauswinden müssen, sondern Freude und Herzlichkeit, Zuwendung und Lust liebevoll miteinander zelebriert werden können.
Tantra bietet die einzigartige Möglichkeit die Dinge aufzulösen, sich den eigenen Themen zu ergeben und unnötige Ballaste loszulassen, die dazu führen die eigene Energie an Widerstand zu verschwenden, anstatt sich energievoll und ekstatisch am Leben und Lieben zu erfreuen. Wie sonst sollten wir zum bewussten Schöpfer unseres Lebens werden?
Der tantrische Mensch ist dann einer, der nicht Wellness vorzieht, sondern die Herausforderung liebt und sein persönliches, sexuelles Yantra mehr und mehr gestaltet und erweitert. Er bleibt nicht sitzen auf dem, was ihm seine heterosexuelle oder homosexuelle Neigung bedeutet, und findet die Begegnung in Liebe mit allem, was ist. Er muss nicht einmal mehr definieren, was er selbst ist, und kann am Ende die Welt erleben ohne sie ständig in Worte, Bewertungen und Kategorien zu zerpflücken. Das blanke Schauen und Fühlen, Annehmen und Vereinigen löst am Ende die Grenzen und Gegensätze auf, von denen wir uns so viel Schönes und Sicheres versprechen, dass wir nicht leicht gewillt sind, es ohne sie zu versuchen.
Das tantrische Ritual ist ein Spiel mit dem Energiepotential der bewusst gewählten Polarität und kein Tanz um ein goldenes Kalb unserer identitätsstiftenden, betonierten, sexuellen Rollenbilder. Der Tantriker und die Tantrika, als Mann und Frau, im Kopf oft zu eng definiert als Shiva und Shakti aber mehr als das, sind am Ende weder geschlechtlich fixiert noch an Yoni und Lingam gebunden, weder hetero noch homo – sie begegnen frei und ohne Kategorie im Bewusstsein der Einheit, Sie brauchen daher auch nicht Mono, Bi, oder Poly sein – was sollte das Definieren noch nutzen, wenn alles gleich möglich ist im Wesen dessen, was uns am Ende wirklich ausmacht. Jenseits dieser zaghaft beschränkt ausgelebten Begriffe und Definitionen liegt das wahre Wesen von Freiheit und Liebe, die Chance auf den wirklich ungebremsten Fluss möglicher Energie. Statt im Definieren zu Verbleiben gilt es – im Stillwerden der ständigen Unterscheidungen und im Vereinigen und Annehmen meiner eigenen Anteile im Außen – das Auflösen aller Gegensätze noch in diesem Leben zu erleben.
Was geschieht mit denen, die das alles so nicht wollen und nicht bewältigen? Nichts, was sie nicht selbst verantworten. Kein Mensch kann und muss sich dem Tantra verschreiben und dazu erzwungene sexuelle Schritte gehen. „Du darfst so bleiben wie Du bist“. Die Welt ist ein Buffet an offerierten Möglichkeiten zum Wachstum – obendrauf auch Sahnehäubchen und Pfefferbeisser – guten Appetit all denen, die es nach Erweiterung und dem tabulosen Fließen der Energien gelüstet!
Mein Dank und meine Verehrung gelten am Ende ganz besonders denen, deren Mut, Lebensenergie und wundervoll-einzigartige Körperlichkeit aller Gender, gesellschaftlich überwundene Diskrepanz, geschlechtliche Experimentierfreude, Offenheit im Mitteilen oder anderweitige Besonderheit im Schauen und Sein, mir eine Chance des bewussten Erlebens jenseits des Wertens, Richtens und ständigen Einordnens eröffnet haben.
Innerlich und äußerlich still, energiegefüllt ausgerichtet, bereit und offen für das Leben in Liebe – so wünsche ich mir meine Begegnung ohne Wenn und Aber. „Dein Lingam ist der Lingam Shaktis – ich verehre ihn! Tan He Vat!“
Text: Michaela Faridéh, Dezember 2022
Webseite: http://www.animatantra.de/