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Am Anfang war die Bewusstheit

Am Anfang war die Bewusstheit

Wenn ich gefragt werde, was ein tantrisches Ritual ausmacht, beginne ich meist mit folgendem Satz: „Ein Ritual ist eine Zeit erhöhter Bewusstheit. Sie hat einen definierten Anfang und ein definiertes Ende.“ Der Beginn und das Ende werden mit dem OM-Gruß, dem Namasté und der Verehrung des göttlichen Funkens im Gegenüber markiert. Dazwischen geschehen nur Dinge, die im Vorfeld besprochen wurden. Es wird nichts hinzugefügt, bisweilen jedoch etwas weggelassen, wenn es sich gerade unstimmig anfühlt. Schauen wir zunächst auf den Begriff „Ritual“ im Allgemeinen, bevor wir uns dem tantrischen Ritual zuwenden.

Alltagsrituale

Der Wecker klingelt und ich gebe mir „rituell“ noch 10 Minuten „Snooze“-Zeit. Beim zweiten Klingeln stehe ich auf und schalte die Kaffeemaschine ein – „rituell“. Nach dem ersten Toilettengang folgt dann die erste Tasse Kaffee begleitet von einer „rituellen“ Morgenzigarette. Langsam komme ich in die Gänge. Die Summe dieser Tätigkeiten bezeichnen wir als Morgenritual. Eingangs sprach ich davon, ein Ritual sei eine Zeit erhöhter Bewusstheit. Doch hier setzt die Bewusstheit erst langsam nach den ersten rituellen Handlungen ein. Kann ich also von einem „Morgenritual“ sprechen?

Symbolgehalt findet sich in Begrüßungsritualen und Tischsitten

Ja, denn Rituale sind auch vorgefertigte Handlungsabläufe, die durch ständige Wiederholung auch in einem Zustand der Unbewusstheit ablaufen können. Sie ermöglichen die Bewältigung auch komplexer Situationen und geben dabei Sicherheit und Orientierung. Und nein: denn wegen des Mangels an Bewusstheit möchte ich solche Handlungen lieber als „Routine“ bezeichnen, wenngleich dennoch als eine Teilmenge von Ritualen wahrnehmen. Was Alltagsritualen neben der Bewusstheit meist fehlt ist ein feierlich-festlicher Aspekt

Ein gewisser Symbolgehalt findet sich beispielsweise in Begrüßungsritualen und Tischsitten. Das Händeschütteln symbolisiert Verbundenheit und Offenheit gegenüber der anderen Person. Gemeinsames Essen und Trinken, begleitet von Tischgebeten und Trinksprüchen betonen die Zusammengehörigkeit. Selbst gemeinsames Rauchen kann als eine symbolische Geste verstanden werden: „wir atmen die gleiche Luft“.

Übergangsrituale

Beim Ritterschlag berührt der Lehnsherr den neuen Ritter mit der Schwertspitze auf beiden Schultern und dem Kopf.

Rituale werden in Gruppen zelebriert, um Übergänge zu würdigen. Dabei haben sie oft einen religiösen oder spirituellen Hintergrund. Beispielsweise in der christlichen Tradition die Taufe, Kommunion, Hochzeit und das Begräbnis. Bei den Freimaurern gilt die „Kugelung“ als Aufnahmeritus für einen neuen Bruder. Beim Ritterschlag berührt der Lehnsherr den neuen Ritter mit der Schwertspitze auf beiden Schultern und dem Kopf. Die ganze Schwertleite ist im Übrigen ein großes Ritual, angefangen von der durchwachten Nacht im Büßergewand bis hin zum Anlegen der Sporen und anderer ritterlicher Insignien. Alle hier verwendeten Gesten haben hohen Symbolgehalt und selbst entfernte Beobachter können diese richtig interpretieren, auch wenn sie die dazu gesprochenen Worte gar nicht hören.

Weitere Übergangsrituale finden sich bei indigenen Völkern, wenn Jungen oder Mädchen mit Einsetzen der Pubertät in den Kreis der Männer oder Frauen aufgenommen werden. Hierzu müssen oft rituelle Bewährungsproben bestanden werden, die identitätsstärkend wirken und die Gruppenzugehörigkeit betonen. Damit fördern und stabilisieren sie auch Bindungen, Gemeinsamkeiten, Harmonie, Ordnung und Intimität.

Tantrische Rituale

Welche der oben genannten Aspekte finden sich nun in tantrischen Ritualen wieder?

Ein tantrisches Ritual wird zelebriert – es ist eine Feier. Demzufolge bereiten die Ausführenden den Ritualplatz entsprechend vor und sorgen für ansprechenden Schmuck, freundliches Licht, schönen Duft und angenehme Musik. Die Teilnehmer (zwei oder mehr) haben sich vorher über den Ablauf und die darin zu vollziehenden Handlungen verständigt und geeinigt. Auch haben sie alle diese Handlungen mehrfach geübt, um sie routiniert und ohne Nachzudenken ausführen zu können. Die Bewusstheit (der Aufmerksamkeitsfokus) liegt im Ritual nicht mehr auf der Durchführung der Handlungen, sondern auf den körperlichen, emotionalen und kognitiven Erfahrungen, die der festgelegte Ritualablauf ermöglicht.

Ein Ritual ist eine Zeit erhöhter Bewusstheit.

Der festgelegte Ablauf gibt allen Beteiligten Halt und Sicherheit. Besonders bei komplexeren Ritualen wie Maithuna. So entsteht eine – über die üblichen Begegnungen hinausgehende – Intimität und Gemeinschaft. Der Ritualleiter wacht über den geschützten Raum und bezeugt gleichzeitig die Einhaltung der Regeln des Rituals. Unterstützend wirken auch die „vier Säulen tantrischer Bewusstheit“: die Anbindung an das Größere oder auch Transformation, die Absichtslosigkeit hinsichtlich der Erfahrungen während des Rituals. Die Zeitlosigkeit ermöglicht, ohne Stress und Zeitdruck in einen Zustand höchster Präsenz zu kommen. Und schließlich die Kommunikation: mit Worten, Gesten, Mimik, Lauten und allen möglichen non-verbalen Formen.

Zusammenfassung

  • Bewusstheit macht Routine zum Ritual
  • Rituale stiften Gemeinschaft, Zugehörigkeitsgefühl
  • ein Ritual werden unter Zeugenschaft vollzogen
  • Rituale folgen festen Regeln, deren Bedeutung den Handelnden bekannt ist
  • der Ritualablauf gibt Halt und Sicherheit
  • Rituale ermöglichen Erfahrung jenseits des Üblichen (Transzendenz)
  • Rituale markieren Übergänge, Lebensphasen, Neuanfänge
würde mein Leben nach und nach zu einem gelebten Ritual werden können?

Eine Zeit erhöhter Bewusstheit …

Zurück zum eingangs geäußerten Gedanken: eine Zeit „erhöhter Bewusstheit“ kennzeichnet ein (tantrisches) Ritual. Fallen wir am Ende der Ritualzeit wieder zurück in die Unbewusstheit? Hangeln wir uns von Ritual zu Ritual, um im ständigen Wechsel zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit zu verharren? Wird aus bewusstem Tun eine rituelle Handlung? Ich meine ja. Wenn es mir gelingen könnte, die Zeiten unbewussten Handels zu minimieren, würde mein Leben nach und nach zu einem gelebten Ritual werden können, das mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet? Leider nein, denn meist dauert es ein paar Jahre, bis ein Kind in den Zustand bewussten Denkens und Handelns eintritt. Und oft versiegt die Bewusstheit im hohen Alter. Aber wenn dem so sein könnte, wäre ich dann erleuchtet?

Text: Klaus Gabriel Peill

Webseite: www.quinta-essentia.de

Das Leben als Ritual verstehen
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Klaus Peill

Klaus Gabriel Peill, Jahrgang 1961, Tantra- und Reiki-Lehrer, Familiensteller und spiritueller Wegbegleiter. Als ausgebildeter Bankkaufmann, Elektroingenieur und Tonmeister war er 20 Jahre in der Vermarktung professioneller Audiotechnik tätig. Seit April 2010 selbständiger Gesundheitspraktiker (BfG) mit Schwerpunkt Persönlichkeitsbildung leitet er Seminare und gibt körperorientiertes Einzel- und Paarcoaching als Lebenshilfe und Begleitung in Lebenskrisen & Veränderungsprozessen.

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