Corona – Innehalten und die Weichen neu stellen
Die Welt ist eine andere
Es ist einige Wochen her, dass ich meinen Text Dialog zwischen den Welten fertiggestellt habe. Inzwischen sind beide Welten andere und sie werden womöglich nie wieder so sein, wie wir sie gekannt haben.
- Die tantrische Welt, in der wir den direkten körperlichen und emotionalen Kontakt pflegen und wertschätzen, sie muss derzeit weitgehend ruhen. Physical distancing ist angesagt.
- Und die große, weite Welt? Sie ändert sich zurzeit so rasend schnell, dass nur eine Weisheit gewiss scheint: Das einzig sichere ist der Wandel.
Im oben genannten Text habe ich herausgearbeitet, wie tantrisches Verständnis über den Gruppenraum und damit den eigenen Tellerrand hinausreichen kann. Tantra bedeutet für mich: Sein mit dem, was ist, unabhängig davon, ob uns das gefällt oder nicht. Was heißt das in Zeiten einer weltweiten Pandemie?
- Kaum je zuvor haben wir erleben können, wie eng verbunden und vernetzt die Welt inzwischen ist. Alles ist mit allem verbunden, das klingt nett. Aber sind wir wirklich bereit, das zu erleben?
- Die meisten von uns wurden mehr oder weniger unsanft aus ihren Lebensgewohnheiten gerissen. Wie leben wir mit der Ungewissheit? Wie gehen wir mit unseren Ängsten um? (Dazu habe ich einen eigenen Text verfasst: Coronifiziert).
- Inwieweit sind wir darin gefangen, nur das wahrzunehmen oder wahrhaben zu wollen, was in unser Weltbild passt? Sind wir bereit, andere, ungewohnte Perspektiven einzunehmen, ohne in konturlose Beliebigkeit auszuweichen und niemals klar Stellung zu beziehen?
Erschütterung – keine Überraschung
Mich hat die Krise erschüttert, nicht nur, weil meine Seminare bis auf weiteres ausfallen, sondern vor allem durch das, was von uns Menschen derzeit deutlicher sichtbar wird: schöne und weniger schöne Facetten.
Ich bin nicht im Schock. Vielleicht habe ich die Krise früher als andere kommen sehen. Durch die Beschäftigung mit Umweltzerstörung und Klimawandel habe ich vermutet, dass die Menschheit zunehmend auf Krisen zusteuern wird. Es war nur offen, welche Katastrophe zuerst weltweite Ausmaße annehmen wird.
Bei allem Leid, das diese Pandemie in die Welt bringt, birgt sie doch auch eine Chance: Wir können innehalten und verstärkt der Frage nachgehen: Wie wollen wir überhaupt leben? Wollen wir wirklich so schnell wie möglich in den ganz normalen Wahnsinn zurück, den wir Menschen auf diesem Planeten veranstalten? Oder zurück in unsere tantrische Nische in der Hoffnung, dass wir die nächste, womöglich noch gravierendere Krise nicht mehr selbst erleben müssen?
Wahrhaftiger Kontakt
Das sind beunruhigende Fragen. Doch wenn ich sie tiefer an mich heran lasse, beruhigen sie mich, weil sie mich in Kontakt bringen mit dem, was wirklich ist. Sie entfernen den Schleier von Illusionen und Lebenslügen.
In meinen persönlichen Beziehungen habe ich sehr zu schätzen gelernt, wie verbindend, erfüllend und heilsam wahrhaftiger Kontakt ist. Meine verwegene Hoffnung für die Menschheit ist die: Dass wir uns der Wahrheit stellen. Dass wir den Schmerz dessen spüren, was wir mit unserem kranken Wirtschaftssystem und dem daraus resultierenden Lebensstil uns selbst, einander und allen Lebewesen antun. Dass wir aus diesem Schmerz heraus ausreichend Mitgefühl entwickeln, um sinnvoll handlungsfähig zu werden. Dass wir Gemeinschaften finden, die uns auf diesem Weg Halt und Unterstützung geben.
Das vielleicht wichtigste Element in meinen Seminaren ist die stets wiederkehrende Einladung innezuhalten, nachzuspüren und sich neu auf das auszurichten, was jetzt ist. Darauf aufbauend auch auf das, was wir uns wirklich von Herzen wünschen.
Keine Kontrolle, aber Einfluss
Vielleicht war die Gelegenheit für die Weltgemeinschaft nie günstiger als jetzt, um wirklich innezuhalten und Weichen neu zu stellen. Es ist völlig offen, ob und wie wir die Gelegenheit nutzen werden. Wir haben keine Kontrolle darüber, aber möglicherweise können wir Einfluss nehmen.
Können und wollen Tantriker dazu beitragen? Wie geht es dir damit?
Herzliche Grüße
Saleem
PS: Über das Thema Die Coronakrise – wie gehen wir damit um? habe ich mit meiner Kollegin Adriana Feldhege ein Gespräch geführt, das auf Youtube zu finden ist.
Text: Saleem Matthias Riek
Website: www.schule-des-seins.de
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