Was für eine merkwürdige Frage?
Rituale führen uns in ein besonderes Geschehen ein, bauen Brücken ohne Worte, verbinden Menschen mit dem Herzen und noch vieles mehr.
Rituale können auch für mehr Bewusstheit im Alltag sorgen. Oftmals sind solche festen Gewohnheiten nicht unbedingt als Ritual erkennbar.
Zwei Beispiele:
Meine Oma machte oft Dämmerstunde. Es war die Stunde nach Sonnenuntergang, die Zeit des Übergangs von Helligkeit zu Dunkelheit, die Zeit zum Dasein. Vielleicht dachte sie dabei über den Tag nach, vielleicht betete sie oder war dankbar für das Tagewerk. Gewiss hatte sie diese Dämmerstunde nicht als „Ritual“ bezeichnet. Manchmal fragte ich als Kind: „Oma, was machst du hier im dunklen Zimmer?“ „Ich mache Dämmerstunde“, sagte sie dann nur. Ich war mit dieser Antwort völlig zufrieden, setzte mich leise neben meine Oma und fühlte Geborgenheit.
Als ich viel später selbst Mutter war las ich unserer Tochter jeden Abend an ihrem Bett eine Geschichte vor. Anschließend kam das Sandmännchen (eine Handpuppe) mit dem immer gleichen Lied zur Nacht (Guter Mond du gehest so stille durch die Abendwolken hin …). Eine kleine (Mond-)Lampe beleuchtete das Zimmer weiterhin traulich, nachdem ich „Gute Nacht“ gewünscht hatte. Danach kam der Vati noch an ihr Bett und wünschte ebenfalls auf seine Art „Gute Nacht“. Wir hatten nie Probleme mit dem „zu Bett gehen“. Erst viel später las ich in einem „Ratgeber“ über „Einschlafrituale“ und andere Hilfen für gestresste Eltern kleinerer Kinder.
Nun befinden wir uns in Krisenzeiten, denn ein kleiner Virus mit dem schönen Namen „Corona“ ist über die Menschheit gekommen. Nun haben wir andere „Rituale“ zu befolgen. Hände waschen, Abstand halten und nicht in die Gegend husten und niesen zum Beispiel. Diese hygienischen Verhaltensweisen hatte mir übrigens meine Mutter dereinst ganz ritualfrei beigebracht. „Das gehört sich so und damit du nicht krank wirst“, war ihre simple Begründung.
Zurück zu Ritualen im Tantra!
Die Anbindung an etwas Höheres, etwas außerhalb unseres begrenzten Selbst, das Einladen von Kräften und der Dank an diese, die Verehrung des Körpers und vieles mehr sind bei tantrischen Ritualen wesentliche Bestandteile. Das erste Mal habe ich wirkliche Rituale bei Seminaren von BeFree erleben können. Meine anderen Begegnungen tantrischer Art waren eher eine Aneinanderreihung von Elementen aus dem Tantra.
Nun, was haben mir persönlich diese Rituale für meinen Alltag gebracht?
Die Begrüßung eines jeden neuen göttlichen Tages als Geschenk, das Einladen von Kräften für diesen Tag, ebenso der Dank an diese Kräfte und die Begrüßung der Nacht, die Bitte um Heilungsschlaf, um Heilung überhaupt … ja, all dies ist mir inzwischen zu einem täglichen Bedürfnis geworden.
Auch achte und ehre ich die Schöpfung viel mehr und intensiver als früher, verneige mich vor Blumen, Bäumen, Bergen, Wiesen, Meeren, Flüssen, Seen und vor allem Lebendigen, denn ich übe mich im stillen Gehen und im Loslassen der ewig kreisenden Gedanken. Am Anfang waren mir diese „Rituale“ peinlich und ich meinte mein seltsames Tun irgendwie erklären zu müssen. Inzwischen ist mir die wohltuende Wirkung wichtiger als die Peinlichkeit. Manche Menschen verstehen es und andere schütteln wahrscheinlich den Kopf. Mir ist es wichtiger, dass auch sogenanntes „Schietwetter“ gute Seiten für mich hat, dass es mir zunehmend mehr gelingt Gefühle von Wut und Enttäuschung in Lebensenergie zu wandeln, dass ich Traurigkeit zulassen und Einsamkeit ertragen kann.
Was hat dies und noch mehr mit Tantra und Ritualen zu tun? Nichts? Oder doch sehr viel?
Welchen „modernen Ritualen“ folgen die meisten Menschen unserer Zeit? Konsumzwang? Karrierestreben? Überforderung? Rastlosigkeit? Pläne schmieden? Erfolge verbuchen? Leistungsdruck aushalten? Zieleorientierung? Reizüberflutung? Obendrein gilt es noch jeder Menge ungeplanter Zufälle wie Staus, Krankheiten, Unfällen die Stirn zu bieten. Niemand ist frei davon!
Deshalb meine ich:
Unser Leben braucht wieder echte Rituale!
Eine tantrische Begegnung ist eine Auszeit und eine Möglichkeit für Raum zum Dasein, zum Spüren, zum Zuhören, zum Annehmen und geben dürfen. Wo sollte dieser Raum herkommen, wenn nicht ein Ritual diesen öffnet? Der Körper ist nicht nur der Tempel der Seele, die Seele braucht auch viel mehr Zeit zum Ankommen. Ein Ritual verbindet Raum und Zeit, Körper und Seele, das Hier und das Universum und wahrscheinlich noch mehr.
Vielleicht wollte meine Oma mit der Dämmerstunde ihrer Seele Zeit lassen, die am Tag nicht gegeben war? Vielleicht sind Einschlafrituale eine Vereinigung von Körper und Seele für gesunden Schlaf?
In meinem Leben sind Rituale inzwischen wie ein roter Faden der vor Verirrungen bewahren kann, der zurück finden lässt aus Zweifeln, Ängsten, Sorgen, der das Leben annehmen lässt und mich einbindet in das große Ganze.
Deshalb:
Tantra braucht Rituale!
Text: Petra L. alias Ellinor Ehrhardt (Pseudonym)
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