Wie sich beides beflügelt, anstatt sich im Wege zu stehen
Viele Menschen haben mit absichtslosem Sex erfüllende, vielleicht bahnbrechende Erfahrungen gemacht, nicht zuletzt dank Tantra. Endlich frei von der Jagd nach einem Ziel. Nichts mehr bringen oder leisten müssen. Der Energie folgen, miteinander spielen, ganz im Moment sein, wie wunderbar. Absichtslosigkeit scheint das Tor in dieses Wonderland zu sein.
Sei absichtslos!
Dieser „tantrische Imperativ“ ist in der Tantraszene häufig zu hören. Bei näherer Betrachtung entpuppt er sich als Widerspruch in sich. Sobald wir Absichtslosigkeit anstreben, wird sie selbst zu einer Absicht und verdirbt uns die Freude daran. Es ist ähnlich wie beim Glück, sobald wir es zum Ziel erklären, können wir kaum anders als scheitern, früher oder später. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?
In einem ersten Schritt können wir die Widersprüchlichkeit des Themas anerkennen. Darauf aufbauend können wir lernen, mit ihr als einer lustvollen Polarität zu spielen, anstatt uns darin zu verhaken. Nachfolgend einige weitere Anregungen:
- Anstatt die Idee der Absichtslosigkeit zu verallgemeinern, beziehen wir sie auf ein konkretes Ziel, das wir dann nicht verfolgen. Wir nehmen uns z.B. vor, keinen Orgasmus zu bekommen oder zumindest keinen anzustreben.
Das ist leichter gesagt als getan, denn Orgasmen können so wunderschön sein, dass wir – möglicherweise unbewusst – doch unbedingt einen haben wollen. Wir haben es mit zwei entgegengesetzten Kräften zu tun: der Sehnsucht nach einem absichtlosem Flow einerseits und der Lust auf den Höhepunkt andererseits. Je klarer wir diese Polarität anerkennen, desto leichter können wir mit ihr spielen. - Mit der Lust auf einen Orgasmus zu spielen und dennoch nicht zu kommen, ist als „Edging“ bekannt. Wir surfen auf der Welle der Erregung, mehr oder weniger kurz vor dem „Point of no Return“. Das kann ziemlich geil sein, braucht aber Übung und Know-How, damit es nicht krampfig, schmerzhaft oder ungesund wird.
- Mit Polaritäten bewusst spielen zu können ist eine erotische Kernkompetenz. Sie beginnt bereits beim Kontakt aufnehmen und Flirten. Aus einem eindimensionalen Geschehen („Da will ich hin!“) wird ein mehrdimensionaler Raum, den wir auf vielfältige Weise gestalten können.
Wir kreieren unsere Erfahrung wie mit den Reglern eines Mischpults. Es geht nicht um On oder Off, sondern um mehr oder weniger. Anstatt auf Ziele vollständig zu verzichten, können wir sie situativ verfolgen und wieder loslassen. Schneller und langsamer, heftiger und subtiler, geben und nehmen, auf mich bezogen und auf dich bezogen, lustvolle Energie aufbauen und wieder abflauen lassen … es gibt viele Möglichkeiten zu spielen.
- Jeden dieser Regler können wir nach unseren eigenen Bedürfnisse betätigen. Allerdings wird Sex erfüllender, wenn nicht jeder nur „sein Ding“ macht („Masturbation zu zweit“), sondern ein Zusammenspiel entsteht, ein gemeinsames „Konzert“, in dem wir aufeinander antworten und miteinander erotisch „musizieren“.
Je flexibler wir mit unseren Intentionen umgehen, desto leichter können wir uns auf die Wünsche des anderen einschwingen. Sobald ein Ziel feststeht, wird der Raum für das Zusammenspiel enger. - Wenn wir unsere Ziele oder unser Begehren verschleiern oder verleugnen, macht das den Raum auch nicht weiter. Ganz im Gegenteil, unterschwellig verfolgte Absichten provozieren oft mehr Widerstand, als wenn wir sie offen mitteilen. Vor allem wenn wir nicht leicht zum Höhepunkt kommen, spricht nichts dagegen, hilfreiche Tricks und Tools einzusetzen, vor allem wenn das nicht zum Pflichtprogramm wird. Offen zu zeigen, dass wir kommen wollen, öffnet eher einen erotischen Raum, als wenn wir so „daran arbeiten“, dass es unser/e Partner/in möglichst nicht bemerkt.
- Offene Kommunikation kann den erotischen Raum weiten, birgt allerdings auch Risiken. Hilfreich ist die Fähigkeit zu dosieren. Erotik lebt nicht zuletzt vom Risiko, aber nur solange wir uns nicht überfordern. Wir nennen es dann nicht „Risikobereitschaft“, sondern flirten oder necken.
Offen zu zeigen, worauf wir abfahren, kann ansteckend sein, aber auch abtörnen. Letzteres vor allem, wenn wir die Erwartung hegen, dass unser Wunsch in Erfüllung zu gehen hat. Wieder haben wir es mit einer Polarität zu tun: Ich möchte sooo gerne … und kann den Wunsch dennoch loslassen. So entsteht Freiheit. - Absichtslosigkeit wird gerne als besonderes Merkmal von Tantramassage hervorgehoben. Zugleich gilt Tantramassage häufig als erotische Massage mit „happy end“. Wie passt das zusammen?
Aus meiner Sicht werden weder Sex noch Massage automatisch besser oder schlechter, weil sie von einem Orgasmus „gekrönt“ werden.
Allerdings macht ein Orgasmus im Erleben der meisten Menschen einen großen Unterschied. Uns über die jeweiligen Erwartungen, Bedürfnisse und Bewertungen zu verständigen, kann helfen, dass unsere Motive nicht ins Unterbewusstsein absinken, von wo aus sie leicht den erotischen Raum untergraben.
- Orgasmen werden nicht nur erlebt und gefühlt, sie werden auch mit Bedeutung aufgeladen, z.B. dass alles „in Ordnung“ ist oder es „gerecht“ zugeht, wenn beide – am besten noch gleichzeitig! – zum Höhepunkt kommen. Uns über die Bedeutung des Orgasmus klarer zu werden, kann einerseits dazu beitragen, leichter zum Höhepunkt zu kommen, andererseits aber auch, eine Fixierung auf den Höhepunkt loszulassen.
- Die verschiedenen Formen von Orgasmen zu erläutern, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Absichtslosigkeit kann dazu führen, dass wir auch andersartige Orgasmen kennenlernen – oder überhaupt andere Formen von Lust. Ab einem bestimmten Lustpegel ist es egal, ob es sich um einen „echten“ Orgasmus handelt oder nicht, die Grenzen verschwimmen. Manche Menschen stehen sogar darauf, voller Absicht ihren Orgasmus zu „ruinieren“, also mittendrin jede Aktivität loszulassen, sodass er unvollständig bleibt und das Erregungsniveau hoch.
- Die Wirkung von Absichtslosigkeit wie auch einer Zielorientierung wird oft erst nach dem Sex deutlich. Was befriedigt uns? Was erfüllt uns? Was macht uns satt? Was hält unser Begehren lebendig? Nach einem Orgasmus kann die Energie deutlich abfallen, was sich angenehm friedlich anfühlen kann.
Wenn wir allerdings zu oft und vor allem zu schnell oder zu zielstrebig kommen, kann uns das energetisch auslaugen, manchmal sogar soweit, dass wir jede Lust auf Sex verlieren.
Nach dem Sex ist vor dem Sex. Wenn wir diese Erkenntnis mit einbeziehen, können wir unser Liebesleben leichter so gestalten, dass es unsere Wünsche tief erfüllt … das Loslassen ebendieses Wunsches inklusive.
Absichtslosigkeit und Begehren, Wollen und Loslassen, Kreativität und Hingabe, sie schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie bilden die Pole, zwischen denen Erotik in Schwingung gerät. Ich wünsche uns allen viel Vergnügen beim Forschen und Experimentieren.
Text: Saleem Matthias Riek
Website: www.schule-des-seins.de