Auf der Welle reiten
Tantra ist in seinem Wesenskern eine Energielehre. Es sucht nach Möglichkeiten, jede vorhandene Energie für spirituelles Wachstum zu verwenden. So werden Pujas (Zeremonien) beispielsweise bei Vollmond oder Neumond zelebriert, die zwischen Polaritäten entstehende Kraft wird gewürdigt (Plus- und Minuspol, Shiva und Shakti) und die Sexualenergie spielt eine bedeutende Rolle bei Ritualen. Der Königsweg zur Nutzung der vielfältigen Energieformen ist das Maithuna-Ritual.
Jede Handlung im Verlauf eines Maithuna-Rituals ist darauf abgestimmt, bestimmte Energien zu wecken, die dem spirituellen Wachstum dienlich sind. Es lohnt sich, einige dieser Elemente einmal genauer zu betrachten, weil sie auch losgelöst vom Maithuna-Ritual ihre Wirkung entfalten.
Die Energielenkung
Das Erzeugen oder die Erweckung jedweder Energie macht natürlich nur Sinn, wenn wir sie auch nutzen können. Dafür hat das Tantra diverse Energielenkungstechniken entwickelt wie Bandhas, Mudras, Visualisation und Atemtechniken, die dazu dienen Energie an jeden gewünschten Punkt des Körpers zu leiten.
Übung: Sexualenergie in den Körper lenken
Richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Genitalbereich und baue etwas sexuelle Energie durch Selbstliebeberührungen auf. Atme dann tief ein und stelle dir dabei vor, dass du mit dem Atem die Energie über die Wirbelsäule bis ins Herzchakra ziehst. Durch Anspannen des PC-Muskels (umschließt Anus und Genitalien) kannst du den Effekt noch verstärken. Beim Ausatmen lässt du wieder los. Schon nach wenigen Atemzügen wird sich dein Herzraum öffnen. Auf die gleiche Weise kannst du deine schöpferische Energie, die Sexualenergie, in alle anderen Chakren oder Körperstellen leiten, wo sie gerade benötigt wird.
Energie aus dem Brechen von Tabus
Im Maithuna-Ritual spielen die “fünf Prinzipien” oder “fünf Ms” (Madya=Wein, Mamsa=Fleisch, Matsya=Fisch, Mudra=Getreide, bewusstseinserweiternde Substanzen, Maithuna=sexuelle Vereinigung) eine große Rolle. Sie stehen für die fünf Elemente Luft, Feuer, Wasser, Erde und Äther mit ihren Energiepotentialen.
Die stärkste Kraft zog das Maithuna-Ritual im traditionellen Tantra jedoch aus der Tabu-Natur der Substanzen. Jedes der fünf M verstieß im indischen Raum gegen eine ganze Reihe religiöser Bestimmungen. Bekanntlich erzeugt Rebellion und Tabubruch eine gewisse innere Spannung (=Energie). In unserer westlichen Gesellschaft stellen zumindest die ersten drei Ms keine Tabus mehr dar, am ehesten noch bei Vegetariern oder bei einigen Glaubensrichtungen. Sie haben eher symbolischen Charakter.
Energiekreislauf mit Atem und Bewegung
Atmung und körperliche Bewegung sind auf der physischen Ebene die besten Methoden, um Lebensenergie (Chi, Ki, Prana) aufzunehmen. Tiefe und entspannte Atemsessions (z.B. Pranayama oder Rebirthing) erhöhen den Energielevel und verteilen die Energie gleichzeitig im Körper.
Beim Maithuna-Ritual wird mit der Atmung ein Energiekreislauf hergestellt. Er beginnt mit einer Beckenschaukel im YabYum-Sitz, wobei beim Einatmen das Becken in einer U-förmigen Bewegung jeweils nach hinten und beim Ausatmen nach vorne geführt wird. Damit entsteht eine fließende Bewegung mit einem Gefühl des Einsseins. Nun visualisieren beide Partner einen Energiekreis durch ihre Körper, der über die Atmung gelenkt wird. Bei einem Partner fließt die Energie beim Einatmen von den Genitalien nach oben bis zum Mund. Dort nimmt der andere Partner mit dem Einatem die Energie auf, lenkt sie bis zu seinen Genitalien, wo sie wieder vom Gegenüber aufgenommen wird. Das hört sich kompliziert an, ist aber mit ein wenig Übung ein harmonischer Energiekreis in Bewegung.
Übung: Den Energiekreislauf in Gang bringen
Ihr sitzt euch gegenüber und der Mann fasst die Hände der Frau. Bei seinem Einatmen zieht er auf seiner Seite die Hände bis in die Höhe seines Gesichts. Bei seinem Ausatmen führt er die Hände auf der Seite der Frau herunter bis zu ihren Genitalien und beginnt wieder von vorne. Die Frau passt sich diesem Rhythmus an. Die Hände bewegen sich also in einem Oval und lassen den Energiekreis sichtbar werden. Nehmt nun noch die Beckenschaukel dazu. Wenn ihr im Fluss seid, könnt ihr in den YabYum-Sitz wechseln und den Energiekreislauf ohne Handbewegung ausführen. Die Übung funktioniert übrigens auch ohne sexuelle Vereinigung.
Kundalini und Chakren
Beim YabYum-Sitz liegen die Chakren an der Vorderseite von Mann und Frau aufeinander und stehen im Austausch miteinander. Jedes Chakra hat seine eigene Strahlungsenergie, die eng verbunden ist mit seiner Lage im Körper und seiner Erfahrungsebene. Das Hauptthema des Wurzelchakras ist beispielsweise Sicherheit und die Beziehung zur materiellen Ebene des Lebens. Im Beckenbereich ruht zudem die Kundalini-Kraft, die Manifestation der kosmischen Schöpfungsenergie im menschlichen Körper.
Wenn sich beide Partner auf die Qualitäten der einzelnen Chakren konzentrieren, verstärken sie sich gegenseitig und werden erlebbar. Beim Herzchakra kann so z.B. das Gefühl von bedingungsloser Liebe und Hingabe entstehen. Durch die Dynamik der Maithuna-Prozesse wird dabei nicht selten die Kundalini-Energie geweckt, die durch den Aufstieg durch die Chakren immer feinstofflicher wird.
Übung: Sexualenergie durch die Chakren leiten
Informiert euch über die Themen der Chakren (z.b. bei http://www.chakren.net/). Beginnt dann im YabYum mit dem oben beschriebenen Energiekreislauf und der Beckenschaukel. Nach ein paar Minuten geht ihr mit eurer Aufmerksamkeit zum Wurzelchakra. Durch die rhythmische Bewegung und die Visualisierung des Chakra baut sich im Beckenbereich eine sehr erdnahe Energie (Sexualenergie) auf. Wechselt nach ein paar Minuten zum Sexualchakra und nehmt dabei die Energie aus dem Becken mit. Dies wiederholt ihr mit allen anderen nachfolgenden Chakren und nehmt dabei jeweils die bis dahin erzeugte Energie mit. Ihr werdet feststellen, dass sie in den oberen Chakren immer feinstofflicher wird und euer Rhythmus automatisch schneller geworden ist. Nachdem ihr das Kronenchakra erreicht habt, entspannt ihr euch in diese Energie hinein. Nach einigen Minuten könnte ihr wieder beim Wurzelchakra beginnen.
Werden, erhalten und vergehen
Alles in unserem Universum ist dem Prozess von Werden (Schöpfungskraft, Energie erzeugen), Erhalten (Energie zuführen) und Vergehen (Loslassen) unterworfen. Shiva und Durga (Shakti) tragen als Symbol für diese Triade einen Dreizack. Bei jedem abgeschlossenen Prozess werden Erfahrungen gemacht, die den nächsten Zyklus auf einer höheren Ebene beginnen lassen. Das nennt man auch Wachstum oder Fortschritt. Bildlich kann man dies in Form einer aufsteigenden Welle darstellen.
Beim Maithuna und allgemein beim tantrischen Sex wird das Wissen um diesen Prozess genutzt, um gemeinsam immer höhere Stufen der Erfahrung zu erklimmen. Eine solche Welle beginnt mit der Erzeugung eines Energiefeldes. Die Energiekurve steigt an und wird weiter verstärkt bis sie einen ersten Gipfelpunkt erreicht hat. Nun folgt die Phase des Loslassens, des Spürens, des Wahrnehmens. Anschließend geht es in die nächste Welle über, die immer weiter aufsteigt.
Übung: Auf der Welle reiten
Diese Übung vermittelt die Erfahrung des “Auf der Welle reiten” oder des “Talorgasmus”. Sie ist aber auch generell für jedes bewusste Liebesspiel empfehlenswert. Beginnt mit dem oben beschriebenen Energiekreislauf und anschließender Lenkung der Sexualenergie durch die Chakren.
Wenn ihr spürt, dass die Lebensenergie fließt, dass ihr Eins im gemeinsamen Rhythmus seid, dann lasst alle Visualisierungen und Gedanken los. Beginnt mit einer langsamen Beckenschaukel und entsprechend angepasster Atmung. Stellt euch vor, dass ihr auf einer Energiewelle reitet. Bei der Aufstiegsphase wird Energie aufgebaut. Euer Bewegungs- und Atmungsrhythmus wird zunehmend schneller und intensiver. Solange, bis ihr den Zenith der Welle erreicht habt. Dort befindet ihr euch im orgasmischen Bereich, bei dem die Körperreaktionen normalerweise den Impuls haben, die Energie nach außen abzugeben. Genau hier entspannt ihr aber in die hohe Energie hinein. Lasst beim Abklingen der Welle jede Anstrengung und Bewegung los und spürt in eure Körperempfindungen hinein. Genießt die Zeit der Wahrnehmung und des Spürens bis ihr die nächste Welle startet. Ihr werdet feststellen, dass jede Welle auf einem höheren Energielevel beginnt, bis ihr den orgasmischen Bereich erreicht habt, in dem alles nur noch Energie ist.
Text: Ralf Lieder & Anke Felice Pospiech
Website: www.himmlisch-lieben.de