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Wir sind alle Teil einer lebendigen Vergangenheit

Auf meinem Morgenspaziergang bemerke ich, wie jeder meiner Schritte etwas Einzigartiges ist, dass sich nie zuvor so ereignet hat und sich schon in ein paar Sekunden nie wieder auf die gleiche Weise wiederholen wird. Die Bäume färben ihre Blätter dieses Jahr viel früher in braunen Farben als sonst und ächzen unter der großen Dürre.

Nicht mehr lange und die Blätter werden fallen in einem erneut erlebten Herbsten meines Lebens. Ich überlege wie viele Herbste ich mir wohl noch bewusst so ansehen werde.

Vielleicht 20 oder weniger, wer weiß. Ich schmunzle über mich, weil es immer häufiger passiert, dass ich das Leben von rückwärts aufrolle, anstatt wie früher einfach hineinzuleben.

Ich bin froh gegen den inneren Schweinehund hinaus die Zeit zu einem Morgengang zu nutzen, obwohl 1000 andere Dinge schon danach rufen getan zu werden.

Ein gut funktionierendes Rädchen im Alltag verpasst sonst neben vielen entspannenden Momenten, in denen das Leben sich durch das Sein zeigt und nicht mehr durch das Tun, auch immer wieder wundervolle Momente der Begegnung mit sich selbst.

Dabei ist diese Begegnung mit sich selbst die einzige, bleibende Komponente eines im Gesamten durchfühlten Daseins. Gottgläubige Menschen werden mir vielleicht jetzt widersprechen wollen und sagen, dass ihre Begegnung mit Gott die echte Komponente ist. Ihnen möchte ich sagen, ohne mich auf eine nähere Diskussion einlassen zu wollen, dass dies ein und dasselbe ist.

Alles, was mir im Leben begegnet, werde ich ansehen, durchfühlen, erfahren und dann wieder loslassen müssen. Ob mir das passt oder nicht. Es kommt und geht. Was mich aber stets begleitet ist das innere Erleben, das Fühlen, Lieben, Sprechen mit mir selbst.

Auch wenn mich im Außen bestürzt, dass die Dinge vergänglich sind, kann ich mich darauf verlassen, dass diese innere Einkehr auf den Punkt des Wesentlichen, das mich mit allem verbindet, was ist, niemals aufhören wird. Solange ich bewusst bin, kann ich die Verbindung zu mir und zum göttlichen Wesenskern nicht verlieren.

Alles, was ich erlebe, stärkt und vergrößert mein inneres Selbst wie einen See, in den die Tropfen hineinfallen. Ich muss nicht leiden im Glauben, dass es mich verlässt. Ich vermute den Sinn und Zweck meines Daseins darin, so zusammenzuwachsen mit Allem und Jedem und alles durch mich zu transportieren. Ich bin Zeuge, Gestalter und Kern dessen, was existiert.

Ich kann die Dinge im Außen nicht festhalten, aber ich kann sie mit mir mitnehmen.

Dazu muss ich mich nicht mal an alles erinnern was war oder was ich mal besessen habe, sondern die Energie dessen genügt, um mich weiter zu tragen.

Vielleicht verhalten sich Menschen deshalb irrtümlicherweise wie ein riesiger Pacman aus den frühen Computerspielen, der alles konsumiert was ihm vors Maul kommt, in der Illusion am Konsum des Gebotenen zu wachsen und deshalb ja nichts davon auszulassen.

Wie so oft ist es aber die Qualität und nicht die Quantität des Erlebten, was aus uns einen energetischen Riesen werden lässt, ohne dass wir angstvoll daran festhalten müssen.

Im Aufstehen heute Morgen bemerke ich auch, dass mir einzelne Gräten weh tun und ein viel größeres Öl-Kännchen brauchen zum Anlaufen als „früher“. Ja, meine Hülle altert und das spiegelt sich im Wahrnehmen und Erleben meiner Umwelt. Ich kann es sehen und bemerken, dass die Macht und Stärke eines Menschen ein seltsames Ende nehmen, wenn er sich darauf verlassen möchte, immer nur im Außen zu halten und zu wachsen, ohne zu realisieren, dass sich unsere Hülle und dieser Besitz dazu nicht eignen.

Aus meinem straffen, jugendlichen Körper ist längst der einer etwas älteren Frau geworden und aus der ehemals Dunkelhaarigen eine Silberhaarige. Aus meinem jugendlich starken Mann längst ein viel bewussterer und älterer, der seine täglichen Kräfte neu überdenken und einteilen muss.

In letzter Zeit sage ich meinen lieben Menschen öfter als sonst, dass es schön ist ihnen zu begegnen und dass ich sie liebe. Das Außen erinnert mich in meiner Beobachtung daran.

Ich tue das nicht aus Gewohnheit, sondern aus dem Bewusstsein heraus, dass mit jedem Tag eine neue, aber für viele Dinge auch eine letzte Chance entsteht dies und ebenso viel Neues ins Leben zu rufen.

Heute Morgen habe ich wie meistens Kater Kalle gebürstet und ihm gesagt, dass er der schönste Kater auf der Welt ist. Seit er beschlossen hat sich morgens und abends von mir verwöhnen zu lassen, glänzt sein Fell wieder und belohnt seine Hingabe mit einem völlig gestriegelten Aussehen.

Umso empörter war ich, als letzte Woche einer der Teilnehmer fragte, wem die räudig aussehende Katze im Garten gehört. Blöderweise sagte ich, dass es meine ist, dabei ist Kalle ein betagter und erfahrener Kater, der niemandem gehört, der alles und jeden zum Genuss verwendet, ohne sich bewusst zu machen, dass sich dies verändern könnte oder er in absehbarer Zukunft von uns gehen wird.

Der Tierarzt sagte, er hätte schon einige Kilometer auf dem Tacho, deswegen sei an seinem Aussehen und Zustand nichts zu bedauern oder zu ändern. So ist es halt, das gelebte Leben.

„Das soeben noch Geeinte zerfällt in einem Augenblick von Zeit“ heißt es zum Abschluss jeden Maithunarituals und ich liebe diesen Satz genauso wie Oshos Erkenntnis „Was entsteht vergeht auch wieder“ als unumstößliche Essenz aus vielen Jahrzehnten Tantra.

Als mir in diesem Monat, während ich ahnungslos Yoga machte, meine Sporttasche samt Kleidung und Schuhen aus dem Spind entwendet wurde, konnte ich im plötzlichen „Mittellossein des Alltäglichen“ einmal mehr gut üben, was es bedeutet „meine persönliche Geschichte loszulassen“. Ritual ist eben doch immer eine gute eine Übung fürs Leben unter Wölfen. Alleine in meinem Kulturbeutel waren viele kleine Dinge gewesen, die mich schon ein halbes Leben begleiteten und sich ohne meine Zustimmung innerhalb einer Stunde für immer daraus verabschiedeten.

Mein Mitgefühl und tiefste Verbundenheit gilt allen Menschen, die in einem plötzlichen Augenblick fassungslos vor viel größeren Scherben einer geglaubten Sicherheit stehen.

Die Lieblingstasse fällt zu Boden und zerspringt in viele Stücke. In einem unachtsamen Augenblick wird ein Fahrrad von einem Auto erfasst und danach ist es in diesem Leben nie wieder so wie es einmal war. Überall auf der Welt stehen Häuser in Flammen und werden persönliche und öffentliche Schätze gewaltvoll dem Laufe einer aggressiven Zeit unbewusst geopfert.

Unsere Einzigartigkeit ist real, aber ihr körperlicher Bestand nur ein Augenblick der Illusion.

Das Festhaltenwollen ist Übel und Sargnagel von Lebensfreude und das Gegenteil von Widerstandslosigkeit. Im Mitfließen darf eine Einzigartigkeit die andere ablösen – so wie Andro es treffend beschrieben hat – „unsere Liebe und Hingabe verlangt danach, uns immer wieder neu einzulassen“, ohne diesen einen dauerhaften Bestand abringen zu wollen und zu klammern, denn gerade die Vergänglichkeit macht sie so süß. Zu diesem Preis werden wir mit dem Erlebten eins.

Das hört sich widersprüchlich an – wenn doch das, was wir in der Verbindung des unvergänglichen Ganzen sind – wenn das erstrebenswert ist – warum fühlt sich dann gerade das Vergängliche für uns so festhaltenswert an?

Vielleicht weil wir doch noch nicht verstanden haben, dass es keine Trennung gibt und die Existenz der Liebe sich in jeder Begegnung zeigt, in jedem Erlebnis und jeder Erkenntnis, am Ende auch in jedem Loslassen. Die äußere Form hat damit nichts zu tun. Sie wandelt sich unaufhörlich und nur die Vergangenheit steht in meiner Wahrnehmung still. (Dass dies nicht so ist, wäre aber wieder einen anderen, längeren Gedankengang wert.)

Alte Menschen ziehen aus ihrem gelebten Leben und alten Erinnerungen oftmals noch die einzige Freude, die Ihnen in entschwindenden Kräften bleibt. Nichts soll sich im Außen mehr verändern, nicht einmal mehr die Tapete oder die Reihenfolge der Bücher im Regal.

Anstatt Geliebtes in uns zu integrieren und freudig damit voranzuschreiten, wenden wir uns ständig um und schauen wehmütig zurück als gäbe es auf unserem Weg keine Chance auf die Weisheit, dass sich auch alles und immer verändern darf.

Ich stimme zu. Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde.

Nichtbesitzen, Nichtwissen, Nichtanhaften, das sagt sich so leicht.

Noch eben lagen gewohnte Unabhängigkeit und erworbene Fertigkeiten vermeintlich sicher in meiner Hand, jetzt schon zerrinnen sie und ich schaue zu.

Ich mache innerlich Platz für die Erkenntnis, dass alles Erfahrene Anteil meines eigenen Seins ist, das ich täglich pflegen kann und nie verliere.

Freudige und stärkende Erlebnisse einzusammeln, melancholische Momente zuzulassen, Abschiede im Außen zu ergänzen mit der Gewissheit das Vergangene ab jetzt im Inneren weiterzutragen und das Kommen und Gehen der Spiegel zuzulassen, ist eine Aufgabe und zugleich ein Segen.

Dieser Tage wäre Andro 81 Jahre alt. Wie schön, dass ich Träger dieser Energie sein darf, die ich durch ihn erlebte.

So geht es mir mit vielem und vielen und es werden mehr werden. Immer wenn ich spiele, ist ab jetzt Elisabeth mit dabei und freut sich. Immer wenn ich koche, schaut mit meiner Oma mit ihrer weisen Erfahrung über die Schulter.

Auch ich werde von Anderen tagtäglich weitergetragen bis zu und über meinen letzten Tag hinaus.

Wir ehren die Dinge und Menschen, indem wir selbst immer wieder neu erleben und lieben, ohne den Fluss der Dinge umkehren zu wollen. Meine Zustimmung dazu ist der Beginn gelebter Zugehörigkeit zum großen Ganzen. Wir dürfen vergehen und uns wundersam ineinander auflösen.

Soeben lag es noch in meiner Hand … und im nächsten Moment – Dust in the Wind.

Epilog (6 Wochen später)

Nur einige Tage nach diesen Zeilen haben wir uns von Kater Kalle in seiner pelzigen Inkarnation verabschieden müssen und seine Hülle zurückgegeben in die Natur der Dinge.

Meine Sporttasche ist wieder aufgetaucht mit allem, was darin war. Das geschah, als ich schon nicht mehr darauf hoffen durfte, die Dinge losließ, aber die Türen aller Möglichkeiten offenhielt.

Meine Mama wird in Kürze in ihre frisch renovierte Wohnung einziehen. Viel Altes wurde losgelassen – auch das darf geschehen im Abschiednehmen von dem, was wir einst glaubten, gewesen zu sein.

Kein Tag ist wie der andere und verlangt nach Weisheit, nicht nach Wissen – alles verändert sich ständig im großen Fluss und steht darin, still und gehalten – erst wenn das was entsteht auch vergehen und wieder neu entstehen darf, sind wir bereit für den nächsten Schritt.

Text: Michaela Faridéh, September 2022

Webseite: http://www.animatantra.de/

Die vergängliche Komplexität meiner Welt
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Michaela Faridéh

Michaela Faridéh ist Jahrgang 1967, Sternzeichen Schütze, Aszendent Skorpion, ganzheitliche Schönheitsberaterin und Tantralehrerin mit vielfältigen Ausbildungen im soliden Handwerk. Seit 2006 mit der Beratung ANIMA*PROJEKT spezialisiert auf die Belange transvestitischer und transidenter Menschen. Ausbildung zur Befree- und Tantralehrerin nach Andro, selbständiges tantrisches Arbeiten unter eigenem Namen (Abende, Seminare, Partyveranstaltungen, angeleitete Rituale und Massagen) im ANIMA*HAUS für gemischte Gruppen, Paare, Frauen, Männer und transidente Menschen. Verbindendes Zusammenarbeiten der verschiedenen tantrischen Richtungen im Sinne des eigenen Erlebens und Wirkens im ANIMA*HAUS sind ihr wichtig.

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