Tantra – das gewisse Etwas für besondere Stunden?
Wie ist Tantra in den Alltag integrierbar?
Viele Menschen, die Tantraseminare besuchen und dort neue, wegweisende Erfahrungen machen, sehnen sich danach, ihre Erfahrungen in ihren Alltag zu integrieren. Sie möchten mehr Lust und Liebe leben und oft auch ein tieferes Bewusstsein für sich selbst entwickeln.
Möglicherweise ist Tantra aber überhaupt nicht für den Alltag gedacht. Lebt seine Magie nicht gerade von der Besonderheit? Ja und Nein.
- Ja, weil wir grundsätzlich nur in Kontrasten wahrnehmen können: ohne hell gibt es kein dunkel, ohne Unlust keine Lust, ohne Alltag keine Besonderheiten.
- Nein, weil Tantra ein tieferes Verständnis von Unterschiedlichkeit und Polarität lehrt, das durchaus auch unseren Alltag verwandeln kann, indem die Verbundenheit allen Seins immer öfter hindurchscheint.
In unserer westlichen Kultur sind Religiosität und auch Spiritualität weitgehend vom „normalen Leben“ abgespalten. Was sich das Kirchenvolk in der Sonntagspredigt anhört, gilt ihm nur selten als echte Maxime für das alltägliche Leben.
Auch wer viel meditiert und Yoga oder auch Tantra praktiziert, lebt zuweilen doch nach ganz anderen Gesetzen: weniger bewusst, weniger sinnlich-erotisch und weniger liebevoll als im Tantraseminar. Das normale Leben ist nun mal kein Wunschkonzert, die harte Realität verlangt eben anderes von uns, als was wir in der Ausnahmesituation einer geschützten Gruppenerfahrung riskieren können. Und schließlich müssen wir ja irgendwie unseren Lebensunterhalt verdienen, oder? Solche oder ähnliche Gründe (er-)finden wir oft, um uns nicht als Versager zu fühlen, wenn wir unser tieferes Begehren und unsere Herzenswünsche vernachlässigen oder gar verraten.
Tantra kann dieses Dilemma nicht lösen, kann aber eine andere Perspektive auf unsere Existenz anbieten. Tantra im Alltag zu leben ist eine stete Herausforderung, kein Glücksrezept, das ein für alle Male umgesetzt werden könnte. Je mehr wir diese Herausforderung annehmen, desto eher wird Tantra zu einer Grundhaltung dem Leben gegenüber, zu einer Lebenskunst, die immer neu erinnert und verinnerlicht werden will.
Was könnten Elemente einer solchen tantrischen Lebenskunst sein? Hier ein paar grundsätzliche Anregungen (Achtung: Ab Punkt 2 nichts für Gehirnschmalz-Phobiker!):
1. Mehr und besserer Sex
Fangen wir gleich mit dem Tantra-Klischee an. Tantra ist sex-positiv, d.h. bejaht unsere Natur als sinnliche, sexuelle Wesen. Wir können dies als permanente Einladung annehmen, unsere Sinne zu schärfen, immer wieder innezuhalten sowie die Aufmerksamkeit bewusst auf unser Körperempfinden auszurichten.
Darüber hinaus können wir uns davon ermutigen lassen, Erotik und Sex vorbehaltlos zu erforschen. Wir können immer wieder neue Spielarten entdecken, unsere Beziehungen prickelnder gestalten und im sexuellen Akt auf entspannte wie erregende Weise präsent sein.
2. Die Universalität von Lust und Liebe entdecken
In der Philosophie des Tantra sind Lust und Liebe keine Phänomene, die nur in besonderen, exklusiven Beziehungen ihren Platz haben, sondern universelle Prinzipien des Lebens. Diese Sichtweise provoziert und fordert dazu heraus, eine eigene Balance von Freiheit und Bindung bewusst zu gestalten, sodass Lust und Liebe wirklich gedeihen. Unsere individuelle Balance kann sich erheblich von gesellschaftlichen Konventionen unterscheiden. Wir brauchen also auch eine Portion Mut und ein sich entwickelndes Selbst-Bewusstsein.
3. Annehmen lernen, was ist
Ein weiteres wichtiges Element ist das tantrische Ja zu dem, was ist. In unserer kritik- und jammersüchtigen Kultur wirkt das für viele wie Balsam für die geschundene Seele. Es verlangt aber auch einen inneren Entwicklungsprozess, bei dem der sogenannte Innere Kritiker
a) identifiziert
b) relativiert
c) verstanden
d) in die Schranken gewiesen und
e) auf heilsame Weise integriert wird.Analog dazu können wir lernen, in unserem Umfeld
a) sowohl anzuerkennen, was ist, als auch
b) Wünsche nach Veränderung zu würdigen und ihnen Ausdruck zu verleihen.
Denn auch diese sind ja da.
4. Die Widersprüchlichkeit des Lebens anerkennen
Das tantrische Ja umfasst auch die Möglichkeit, zu einem eventuellen Nein ja zu sagen. Tantra heißt so gesehen, mit der Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit der Existenz zu leben, anstatt Eindeutigkeit zu verlangen. Dies bedeutet auf jeder Ebene etwas anderes:
a) Auf der Ebene des Verstandes beinhaltet dies die Fähigkeit zu paradoxem Denken.
b) Auf der Ebene der Emotionen bedeutet es die Fähigkeit, mit weitem Herzen unterschiedlichste Gefühle da sein zu lassen und sie alle zu umarmen.
c) Auf der Ebene des Körpers und der Sexualität heißt es, die Polaritäten voll auszukosten, indem wir uns zwischen Yin und Yang schwingen und vibrieren lassen.
5. Unsere Identität durchlässiger werden lassen
Aus der Sicht des Tantra ist alles mit allem untrennbar verbunden – auch wenn wir das manchmal ganz anders erleben und uns z.B. einsam, isoliert und kontaktunfähig fühlen. Im Laufe unserer Entwicklung legen wir uns alle eine Identität zu, ein Set von Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen, das wir als „Ich“ definieren. Dieses Ich grenzen wir dann von allem anderen als „Nicht-Ich“ mehr oder weniger scharf ab.
Eine Identität ist lebensnotwendig. Ohne sie wären wir überfordert, ausreichend Struktur und Sicherheit in unser Leben zu bringen. Andererseits ist jede festgefügte Identität eine Illusion, die unseren Spiel- und Erlebnisraum soweit begrenzt, wie wir sie mit unserer letzten Wahrheit verwechseln.
Mit paradoxem Denken entkommen wir der Falle des Entweder-Oder. Wir entwickeln eine durchlässige, flexible und für Veränderungen offene Identität, die uns nebenbei auch zu echter Toleranz gegenüber anderen befähigt. Wir sind im Grund alles, was es gibt. Es gibt nichts, was nicht auch in uns Resonanz finden könnte.
6. Integration als lebenslanges Projekt
Die angesprochenen Elemente und Ebenen einer tantrischen Lebenshaltung verlangen – last, not least – auch nach einer Integration miteinander, nicht als Endlösung, sondern als lebenslanges Projekt. Dazu gehört die gedankliche Horizonterweiterung, die Heilung unserer Lust-, Liebes- und Beziehungsfähigkeit, die Entwicklung einer undogmatischen erotischen Kultur und die Wahrnehmung unserer Verbundenheit mit allem Sein.
Inneres Wachstum verlangt auf allen Ebenen, immer wieder das Besondere zuzulassen, um es zu erkunden, uns damit anzufreunden und es dann als ganz normal in unser Selbst- und Weltverständnis zu integrieren. Nur um uns dann wieder von weiteren Besonderheiten des Lebens faszinieren zu lassen …
Das darf dann auch wieder ganz sinnlich-konkret oder emotional bewegend und weniger theoretisch-abstrakt als dieser Text sein … also am besten gleich zurück zu Punkt eins. Mehr und besserer Sex ist oft ein guter Anfang.
Ich wünsche uns allen viel Freude dabei.
Text: Saleem Matthias Riek
Website: www.schule-des-seins.de