Kürzlich tauchte in der Abschlussrunde eines Tantra-Seminars zum Thema Liebe und Freiheit wieder einmal die Frage auf, wie sich das im Seminar erlebte, tantrische Begegnungen und tantrischer Geist, in den Alltag übertragen und integrieren lassen? Dazu wäre zunächst zu präzisieren, wodurch sich tantrische Begegnungen und tantrischer Geist eigentlich auszeichnen. Dies ist ein Unterfangen, welches zahllose Aspekte und Facetten hat, eigentlich ganzer Bücher bedarf, um ihm gerecht zu werden. Trotzdem möchte ich versuchen einige meiner Auffassung nach bedeutsame Gesichtspunkte herauszugreifen.
Meine persönliche Sicht des Tantra habe ich versucht in einem früheren Text zusammenzufassen, und hier möchte ich dies nun im Zusammenhang mit der gestellten Frage konkreter ausführen. Ich selbst sehe Tantra als ein Werkzeug die Liebe wachsen zu lassen, wobei ich Liebe allgemeiner auffassen möchte als das Verspüren von Verbindung. Verbindung zu mir selbst, anderen Menschen, Tieren, der Natur, oder Gegenständen, die mir wertvoll und wichtig erscheinen.
In einem Tantra-Seminar steht natürlich die Verbindung zu Menschen im Vordergrund. Begegnungen und berührende Momente mit mir und anderen, sowohl auf einer mehr emotionalen, gefühlten Ebene, zum Beispiel in der Meditation oder durch intensiven Blickkontakt, als auch körperlicher, wie in einer innigen Umarmung oder bei der Tantra-Massage. Den tantrischen Aspekt macht für mich hierbei sowohl besondere Bewusstheit und Achtsamkeit aus, als auch Absichtslosigkeit. Meine ganze Aufmerksamkeit ist auf den gegenwärtigen Moment und meine Tätigkeit ausgerichtet, und ich versuche nicht, nächste Schritte mit einem bestimmten Ziel vor Augen zu planen, sondern sie möglichst intuitiv zu erspüren, mich aus dem Moment heraus leiten zu lassen.
Diesen Zugang hat Tilopa in seinem Gesang an Naropa in wundervollen Worten zum Ausdruck gebracht: Ohne jede Anstrengung, einfach nur, indem du gelöst und natürlich bleibst, kannst du das Joch zerbrechen, und Befreiung erlangen. Dies ist ein essentieller Aspekt des Tantra: Ohne jede Anstrengung. Oder, heutzutage würde man vielleicht eher sagen: Durch „im Fluss“ sein. Denn, wenn man sich anstrengt, tritt das Ego zum Vorschein, betritt das Selbst die Bühne. Manches Mal sich selbst, das Innen, wichtiger nehmend wie das Außen, und manchmal auch zu wenig wichtig. Aber nur wenn Innen und Außen gleich wichtig sind, sich im Gleichgewicht befinden, braucht das Selbst keine Rolle mehr zu spielen, kann sich von der Bühne verabschieden, und die Verbindung zum Ganzen kann erfahren werden.
Der Gesang des Tilopa wurde in einer Reihe von Vorträgen sehr ausführlich und tiefgründig von Osho analysiert und interpretiert, und aus diesen umfassenden, erläuternden Betrachtungen möchte ich einen kurzen Abschnitt herausgreifen:
Liebe ist also keine Anstrengung, man kann sich nicht anstrengen, um zu lieben. Wenn du dich anstrengst, gibt es keine Liebe. Man fließt in sie hinein, man strengt sich nicht an, man lässt sie einfach geschehen. Es ist kein Tun, es ist ein Geschehen, ohne sich zu bemühen. Und dasselbe ist der Fall mit dem Finalen, dem Ganzen; man bemüht sich nicht, man schwebt einfach mit: aber man bleibt gelöst und natürlich. Das ist der Weg, das ist die Grundlage des Tantra. (Osho, Tantra – Die höchste Einsicht.)
Wie kann ich diese Herangehensweise nun in den Alltag übertragen? Ein grundlegender Bestandteil, eine tragende Säule des Tantra ist Bewusstheit, Achtsamkeit. Diese kann ich in jeder Tätigkeit des Alltags üben, praktizieren, vertiefen. Sei es in meinem Beruf, meinen Hobbys, bei der Gartenarbeit, beim Kochen, beim Abspülen, oder beim Putzen, durchaus auch der Toilette. Und man wird dabei feststellen, dass sich Achtsamkeit trainieren lässt wie ein Muskel. Sich durch beständiges Üben verstärkt, vertieft. Und die größere Bewusstheit die wahrgenommene Verbindung zu den Objekten des täglichen Umgangs intensiviert. Was wiederum das Gefühl der Verbundenheit zur Welt anwachsen lässt, und die dadurch empfundene Liebe.
Und auch ein weiterer Pfeiler des tantrischen Geistes kann sich im alltäglichen Leben als sehr hilfreich erweisen: das Nicht-Anhaften, Loslassen können. Gemäß der zweiten noblen Wahrheit des Buddha entspringt Leid aus Verlangen, und deshalb ist es erstrebenswert, Verlangen wenn möglich zu vermeiden, beständig immer weiter zu verringern. Selbstverständlich dürfen dennoch Wünsche auftauchen, geäußert werden, vielleicht weisen diese uns sogar die Richtung des nächsten Schrittes aus einem gegebenen Moment heraus. Aber wenn die Erfüllung eines Wunsches, aus welchen Gründen auch immer, nicht absehbar ist, gilt es, diesen loszulassen, dem Universum zu übergeben, damit sich kein Verlangen einstellt. Eine solche Lebensweise wird letztlich dazu führen, dass Leid vermindert wird, sich möglicherweise vollständig auflöst, ganz im Einklang mit der Lehre des Buddha.
Neben aller Anwendung der tantrischen Ideen im Alltag lassen sich natürlich auch tantrische Begegnungen, tantrische Rituale, im privaten Raum pflegen. Wobei die erworbene Bewusstheit, Achtsamkeit von großer Bedeutung ist, weil körperliche Nähe, gelebte Sexualität, häufig eine starke Kraft entfaltet, die sowohl der persönlichen Entwicklung dienlich sein kann – dies ist ja ebenfalls eine fundamentaler Aspekt des Tantra, da nichts ausgeschlossen werden sollte, alles Raum einnehmen darf – aber die Beschäftigung mit der eigenen Sexualität, und der von anderen, immer wieder auch Widerstände anrührt und an die eigenen Grenzen und Tabus heranführt.
Aber der Nährboden des Wachstums ist nicht die Komfortzone, sondern Wachstum findet an den Grenzen statt, sobald wir sprichwörtlich über uns hinaus wachsen. Und wer bereit ist über alle Grenzen zu wachsen, und dabei doch im Gleichgewicht bleiben kann, hat praktisch schon jene Gipfel hinter sich gelassen, die sich mit Anstrengung gerade noch erklimmen lassen.
Text: Matthias Jamin
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