Was ist Schatten, und wie entsteht er? Naturwissenschaftlich gesehen ist Schatten an Orten zu finden, wo das Licht nicht hinkommt, wo Gegenstände, oder im übertragenen Sinne Widerstände, den direkten Weg zur Lichtquelle verstellen, versperren. Und somit größere Dunkelheit vorherrscht. Bereiche, die sich dem Auge des Betrachters entziehen wollen, und wo vielleicht auch gar nicht so gerne hingeschaut wird. Man möglicherweise nicht genauer wissen möchte, was sich dort verbergen mag.
Aber verändert es die Wirklichkeit, wenn in einem bestimmten Moment manche Dinge aus dem Blickfeld ausgeblendet werden? Ob bewusst, oder unbewusst. Wir wie der sprichwörtliche Vogel Strauß den Kopf in den Sand stecken, um das vermeintlich Unschöne nicht zu sehen. Der reale Strauß ist hier schon etwas weiter, er sieht der Gefahr ins Auge, und flüchtet meistens, oder kämpft, wenn dies unvermeidlich erscheint. Und ich denke, wenn es in der Vergangenheit wirklich Kopf-in-den-Sand steckende Strauße gegeben hätte, wären sie von der Evolution wahrscheinlich relativ rasch ausselektiert worden und ausgestorben.
Schatten sind ein Teil dieser Welt, genau wie das Licht. Licht und Schatten bedingen einander, könnten ohneeinander kaum sein, solange nicht Alles gesehen wird, oder verspürt. Das Licht alles durchdringt. Wie aber könnte man Schattenseiten des Menschseins, Schatten auf der Psyche, der Seele, charakterisieren? Für mich wäre ein Charakteristikum, ein Merkmal, dass Schattenseiten das Vermögen haben Leid zu verursachen, für einen selbst, für andere, oder für alle Beteiligten; im Moment, oder in der Zukunft. Der Dualismus von Licht und Schatten, Düsternis, könnte also auch gedeutet werden, als der Dualismus des vermeintlich Guten und des vermeintlich Schädlichen, Bösen. Eines der Themen, welches zu den am häufigst aufgegriffenen in allen Künsten gehört. Vom paradiesischen Sündenfall, über Goethes Faust, bis hin zum Herrn der Ringe oder Star Wars.
Gemäß der zweiten Noblen Wahrheit des Buddha entsteht Leid durch Verlangen. Durch Dinge, an denen festgehalten wird, die nicht losgelassen werden können, auch wenn eventuell der Wunsch danach besteht. Wie Süchte, Abhängigkeiten von Alkohol, Tabak, Drogen, Videospielen, Pornographie, oder problematischen sexuellen Neigungen, wie Pädophilie oder Sadismus. Was nicht bedeuten soll, alkoholische Getränke dürften nicht in Maßen genossen werden, das eine oder andere Videospiel gespielt, oder mancher Pornofilm angesehen. Problematisch wird es, wenn die Freiheit verloren geht, eines dieser Dinge zu tun, aber es eventuell auch bleiben zu lassen, Kontrollverlust, Zwanghaftigkeit im Handeln vorherrscht.
Außerdem verdeutlichen diese Beispiele, dass es Schattenseiten geben kann, die tolerierbar, lebbar sind, auch wenn sie ein gewisses Leiden verursachen, und andere, denen ich dies gänzlich absprechen würde. Vor allem, wenn eine Schattenseite große Qualen, möglicherweise lebenslange Verletzungen und Traumata für andere Menschen, insbesondere Kinder, nach sich zieht. Womit von den genannten Beispielen die Pädophilie eine der Schattenseiten wäre, die unter keinen Umständen gelebt werden darf.
Welches aber ist die Sicht des Tantra auf unsere Schattenseiten? In einem früheren Text für das Tantranetz habe ich über mein Verständnis des Tantra geschrieben, und diese Auffassungen möchte ich auch auf den Umgang mit unseren Schattenseiten anwenden. Für mich ist Tantra ein Werkzeug, ein Hilfsmittel, um Verbindung, Liebe im weitesten Sinne, wachsen lassen kann. Die Verbindung eines Menschen zu sich selbst und seiner Umgebung, der Außenwelt.
In Bezug auf unsere Schattenseiten bedingt diese Verbindung, dass auch die finstersten Bereiche der Seele wahrgenommen werden, da sein dürfen. Denn wäre es hilfreich diese Schattenseiten zu verurteilen? Könnte dies im Moment eine Veränderung zum „Besseren“ bewirken? Der Erfahrung nach bewirkt wegschieben wollen, verdrängen, eher das Gegenteil. Denn auch zum Wegschieben ist ein gewisses Festhalten, besondere Aufmerksamkeit, nötig. Was wiederum das Loslassen erschwert. Unsere Schattenseiten bewusst wahrzunehmen, bedeutet aber nicht, dass ich darauf mit einer Handlung reagieren muss. Im Idealfall kann ich den Impuls bemerken, und dann sich selbst überlassen, wie Gedanken in der Meditation. Dadurch bietet sich die beste Chance, dass das Licht immer weiter vordringt, immer vielfältigere Gefilde erreicht und erhellt.
Zum Abschluss möchte ich noch eine persönliche Geschichte erzählen, die zeigt, dass Schattenseiten möglicherweise auch eine Bedeutung, eine Funktion, in der Entwicklung haben können. Zu Weihnachten 2010 schenkte ich meinem Sohn ein Videospiel, Monster Hunter Tri. Schon in der Vergangenheit hatte ich ab und an gerne Computerspiele gespielt, und so kam mir die Idee, dieses Spiel eventuell gemeinsam mit meinem Sohn spielen zu können, als Vater-Sohn Unternehmung sozusagen. Es stellte sich aber heraus, dass das Spiel recht komplex war, und mein Sohn damals vielleicht noch zu jung. Jedenfalls zeigte er zu dieser Zeit kein großes Interesse daran. Mich faszinierte es umso mehr, und ich verbrachte viel Zeit damit. Mehr als objektiv vermutlich als „gut“ erachtet werden würde.
Bis etwa 2015 spielte ich Monster Hunter Tri, und auch dessen Folgetitel, zeitweise recht exzessiv. Wähnte mich manchmal schon nahe der Videospiel-Sucht, zumindest im Grenzbereich, was mir deutliche Gewissensbisse verursachte, wenn ich andere Dinge, die vermeintlich wichtiger waren, vernachlässigte. Auf der anderen Seite fühlte ich mich beim Spielen sehr glücklich, konnte seelische und körperliche Schmerzen, die mich zu dieser Zeit plagten völlig vergessen. Und irgendwann, nach einem weiteren Schritt der persönlichen Entwicklung, des Wachsens, konnte ich das Spiel loslassen. Es hatte seine Funktion erfüllt, und ich habe Monster Hunter seitdem nicht mehr angerührt. Schaue nur manchmal noch Videos von herausragenden Spielern auf YouTube an.
Wie sagte doch der weise, chinesische Bauer in einer weit verbreiteten Erzählung: „Wer weiß schon, was gut ist, und was schlecht?“ Es bleibt nur, in einem gegebenen Augenblick dem Herzgefühl zu folgen, so gut das eben in unserer Macht steht. Auf dass die Liebe wachse.
Text: Matthias Jamin
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spricht mich sehr an…hinzu kommt bei mir noch, dass ich so ein Gefühl hatte: ich darf das nicht. ( alte Glaubenssätze wohl). Mittlerweile haben sich einige Bereiche im wahrsten Sinne durch den Mut oder die zugewonnene Erkenntnis „erhellt“
Danke liebe Susanna, für Deine freundlichen Worte!
Und es freut mich, dass Du Deinen Weg zu finden scheinst.
Ja, das „mache“ ich seit über 40 Jahren und ist nicht immer unbedingt einfach , da ich Vertrauen brauche und mir
gerne Unterstützung von ähnlich freien und offenen Mitmenschen ohne irgendwelche Vorurteile wünschen würde.
Wie kommst Du darauf zu sagen….das Du deinen Weg zu finden scheinst? Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig 🙂