Du hast meinen Körper genutzt – so viele Male.
Endlose Stunden voll Schmerz und Ekel.
Hast Dir genommen, was Du wolltest.
Hast mich als Dein Eigentum betrachtet.
Tagsüber Dein kleiner Engel.
Nachts Dein Lustobjekt.
Du hast mir meine Kindheit genommen.
Du hast mir mein unbeschwertes Lachen genommen.
Du hast meinen Körper mit Gewalt in Besitz genommen.
Meine Seele ist zersplittert.
Tausend Fragmente meines Selbst.
Es ist mir gelungen, dieses Mosaik zu einem neuen Ich zusammenzusetzen.
Es ist mir gelungen, meinen Körper anzunehmen.
Es ist mir gelungen, Liebe mit allen Facetten neu kennen zu lernen.
Im Tantra habe ich mich erkannt als ein seelenvolles geliebtes Wesen.
Im Tantra erlebe ich echte Verbindung und Nähe.
Im Tantra kann ich Geben und Empfangen.
Ja, ich bin ganz.
Mit allem verbunden.
Heil an Körper, Seele und Geist.
Narben auf der Seele
Gewalt hinterlässt immer Spuren. Ob es psychoemotionale Zurücksetzungen oder Vernachlässigungen sind, körperliche Züchtigung von Kindern oder sexualisierte Gewalt. Es muss nicht in dem Ausmaß erlebt werden, wie in der Medienlandschaft präsentierte „spektakuläre Fälle“ von internationaler organisierter Gewalt oder ritueller Gewalt – nein. Es können schon anzügliche Bemerkungen, ungefragte Berührungen, Fotoaufnahmen oder ein einmaliger Übergriff ausreichen, um Narben auf der Seele eines Kindes entstehen zu lassen (vgl. Fischer & Riedesser 1998).
Noch immer gibt es im deutschsprachigen Raum nur wenige Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen mit dem Schwerpunkt Psychotraumatologie. Noch immer ist es ein zähes Ringen mit Kostenträgern, die häufig langjährige Traumabehandlung für Menschen mit chronisch-komplexen Traumafolgestörungen bezahlt zu bekommen: Ob es sich um Persönlichkeitsstörungen, Dissoziative Störungen, Essstörungen, somatoforme Störungen oder Suchterkrankungen handelt – nicht selten sprechen die betroffenen Frauen und Männer von einem „zersplitterten Selbst“ (vgl. Huber 2012).
Neurophysiologisch betrachtet, liegen sie mit dieser Wahrnehmung gar nicht falsch. In Extremsituationen werden die Erlebnisse in getrennten „Speicherzentren“ im Gehirn abgelegt. Das macht es dem kindlichen „Selbst“ leichter, das Erlebte nicht in seinem gesamten Ausmaß wahrzunehmen.
Dieser dissoziative Schutzmechanismus hat den Nachteil, dass einzelne Erinnerungsbruchstücke fortan an die Erlebnisse „erinnern“, ohne dass eine Chance besteht, alles zu einem Puzzle zusammenzufügen. Viel mehr noch: Diese Trigger können auch harmlose Situation als extrem bedrohlich erscheinen lassen (vgl. Sachsse & Dulz 2009).
In der achtsamen tantrischen Begegnung liegt somit nicht nur ein Trigger-Reiz, der Erinnerungsbruchstücke der traumatisierenden Situation(-en) aufruft, wie körperliche Nähe und Berührungen, sondern auch der Schlüssel für echte Heilung auf Ebenen, die weit über Sprache und Kognition hinausgehen.
Klare Grenzen absprechen
Wenn im Vorfeld über die Vorerfahrungen gesprochen wird, wenn klare Rahmenbedingungen und Grenzen abgestimmt werden, wenn die/der Gebende achtsam wahrnimmt, wie der/die Empfangende auf Düfte, Berührungen und Bewegungen reagiert, wenn alles im Sinne wahrhaftiger Begegnung, nicht-wertend und mit einer reinen Geisteshaltung geschieht, dann ist in diesem Raum Entwicklung und Heilung möglich. Dann können auch Seele, Körper und Geist des Menschen wieder zueinander finden, die durch Gewalt getrennt wurden. Hier liegt unschätzbares Potential von Ganz-Werdung, wenn beide sich auf diese Begegnung einlassen können. Einlassen wollen. Bereit sind, sich zu begegnen.
So, wie jede traumatische Erfahrung ein individuelles Erleben ist, wie jeder Weg der Heilung einzigartig ist, so sind auch tantrische Begegnungen immer hochindividuell und einmalig. Ja, Tantra kann neue Räume erschließen und neue Welten eröffnen. Tantra kann ohne Umwege dort zu Heilung beitragen, wo Gesprächstherapien auch nach hunderten von Sitzungen niemals angelangen können – gerade, wenn es sich um frühe Erfahrungen handelt, die ein Kind im Vorsprachlichen Alter erlebt hat. Wo es rein körperlich-emotionale Verletzungen waren, die sich über die Jahre im Körper und der Psyche festgesetzt haben und mitgewachsen sind.
Gerade wir, die wir tantrische Erfahrungen mit andern teilen, vielleicht auch über einschlägige akademische Abschlüsse verfügen, wir sollten uns bewusst sein, dass es nicht nur eine große Verantwortung ist, wenn wir mit einem Menschen arbeiten, dessen Körper-Seele-Geist zersplittert und vernarbt ist. Es ist zugleich ein Auftrag, ein Geschenk, sich diesem Gegenüber so zuzuwenden, wie es dieser Mensch vielleicht noch nie in seinem Leben erfahren hat. Geschieht alles verantwortungsvoll, bewusst und achtsam, so können sich völlig neue Welten für diese verletzte Seele eröffnen. Neue Dimensionen der Erfahrung und des Seins. Freiheit. Lebensfreude. Liebe. Gesunde Lust und Leidenschaft. Heilung und Ganz-Werdung.
Text: Étoile Noire (Pseudonym)
Literatur:
Fischer, G. und Riedesser, P. (1998): Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Reinhardt.
Huber, M. (2012): Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung. 5. Aufl. Paderborn: Junfermann.
Sachsse, U. und Dulz, B. (2009): Traumazentrierte Psychotherapie – Theorie, Klinik und Praxis. Stuttgart: Schattauer.