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Wie frei sind wir im L(i)eben?

Was tummelt sich alles am heutigen Liebeshimmel? Während die Ehe gleichzeitig einer heftigen Zerreißprobe ausgesetzt ist und andererseits wieder romantisch verklärt als die einzig wahre Liebe ersehnt wird, erforschen neugierige Zeitgenossen alle Lust- und Liebesformen, die außerhalb dieser lebenslänglichen Zweierkonstellation sonst noch möglich und vor allen Dingen lebbar sein könnten. Und jeder glaubt, ganz frei die jeweilige Konstellation gewählt zu haben. Manche verurteilen sogar alles andere, so als hätten einzig sie selbst – was die Liebesbeziehungen betrifft – den Stein des Weisen gefunden.

So kommen manche zu dem Schluss, dass die monogame Beziehung sowieso ein Auslaufmodell und alles nur eine Frage der Zeit und der Evolution ist. Die Ehe-Glücklichen dagegen vermuten, dass beim freien Ausprobieren in alle Lust- und Liebesrichtungen nur versäumtes Forschungs- und Jugendglück nachgeholt wird, weil diese Freiheit – nach Jahrhunderten im Korsett der Moral – endlich möglich ist. Die meisten, so stellen sie fest, kehren nach freiem Experimentieren schließlich geläutert wieder in den Hafen der Zweisamkeit zurück.

Noch hat die Wissenschaft nicht festgestellt, ob polyamor L(i)ebende glücklicher als feste Dauerpaare sind. Oder ob dabei nur ein einzelner sexuell Streunender, der nicht einzufangen ist, das Glück für sich gepachtet hat, und diejenigen, die ihn lieben, paradoxerweise zum Mitmachen der sexuellen Freiheit zwingt. Klare und signifikante Statistiken gibt es von Dauerpaaren. Sie zeigen, dass den meisten die Liebeslust von Jahr zu Jahr mehr zwischen den ohnmächtigen Fingern zerrinnt.

Wenn ich meine eigene Lebensgeschichte betrachte, so waren die Jahre des Ausprobierens tatsächlich wichtige Stufen auf meinem Weg zur sexuellen Erfüllung und zum Erwerb hilfreicher Beziehungsqualitäten. In mehreren aufeinander folgenden Beziehungen und in den Kurzzeit-Episoden dazwischen geriet ich dabei jedoch auch immer wieder in das Gefängnis von Erwartungen und in dichtes Beziehungsgestrüpp. Dort, wo es am schwierigsten war, konnte ich (aus heutiger Sicht gesehen) am meisten lernen und wachsen. So kann ich auf mehrere Beziehungsmodelle zurückblicken, die mein Liebesspektrum und meine Lebenserfahrung sehr bereichert haben.

Das übliche Beziehungsdesaster hat für die meisten Beteiligten folgenden Ablauf: Umgarnt von der großen Verheißung tappen zwei Menschen in die Liebesfalle, die nach der Zeit der rosaroten Brille gnadenlos zuschnappt. Jetzt traktieren sie einander plötzlich mit ihren Unfähigkeiten und entdecken Tag für Tag neue Mängel am anderen, die sie in aufwändigem Kampf ausmerzen wollen. Aus der glückseligen Romanze ist ein bedrückendes Gefängnis geworden. Gegenseitig hält man sich durch uralte Ängste, übersteigerte Erwartungen und verinnerlichte Vorschriften vom L(i)eben ab. Was vorher – angeschupst durch Amors Pfeil oder Aphrodites Fleischeslust – wie ein Strom freien Liebesglücks anmutete, artet nun zu manchmal recht fleißiger und anstrengender Beziehungsarbeit aus, genährt und angetrieben durch die Hoffnung, das ursprüngliche Glück wiederzufinden.

Hat man allmählich erkannt, dass das Partnerveränderungsprojekt zum Scheitern verurteilt sein muss, besinnt man sich heutzutage auf das eigene Veränderungspotenzial als letzten Strohhalm zum Erhalt einer Liebesgeschichte. Es bräuchte sich nur das Innere zu ändern, das Äußere würde dann schon folgen. Während Glaubenssätze geknackt und Gewohnheiten und Unbewusstheiten ans Licht gebracht werden, visualisiert man parallel dazu gleich vorsichtshalber den Traumpartner irgendwo da draußen oder im aktuellen Partner oder bestellt ihn beim Universum. Zum Hoffnungscocktail gesellt sich eine Prise gewaltfreie Kommunikation und natürlich bewusster, tantrischer Sex als Vorbereitungsmaßnahme für das zukünftige Liebesglück.

Spirituelle Schlaumeier erkennen das Beziehungsdesaster an sich als die beste Wachstumschance und Hilfe zum Erwachen aus dem Traum der Farben und Formen und mühen sich aus Erleuchtungszwecken tagtäglich ab, unmögliche Partner annehmen und lieben zu lernen.

Aber sind da die Polyamoren wirklich besser dran? In einem anderen Winkel des Menschenmöglichen erproben sie unternehmungslustig und manchmal tollkühn neue Beziehungsformen, um dem oben beschriebenen Verhängnis zu entfliehen. Manche jedoch erwartet dabei nach heftigem Regen eine noch heftigere Traufe. Denn dem Beziehungsgestrüpp entkommen auch sie nicht. Im Gegenteil – oft potenziert es sich sogar.

Zum Beispiel Matthias*: Er gönnt sich seit über zwanzig Jahren zwei Frauen, die weit entfernt voneinander wohnen. Und seit zwanzig Jahren hat er entsprechend doppelt (wenn nicht sogar multiple) Beziehungsdramen. Zwar stachelt die Anwesenheit einer weiteren Person für eine Weile den Sexehrgeiz an, doch auch diesen mildert schließlich der Zahn der Zeit. Und dann bleibt wie auch in der alten monogamen Beziehungsstruktur das Übliche übrig, nur eben in doppelter oder mehrfacher Ausführung.

Oder Veronika*: Sie liebt ihren Marc heiß und innig und wollte ihn von Anfang an für immer an ihrer Seite haben. Doch er kann und will das Paarspiel nicht spielen und mutet ihr ein abenteuerliches Leben zu, natürlich mit entsprechenden Wachstumschancen für ihre verkrusteten Vorstellungen. Sie lebt es nur notgedrungen mit – gepeinigt in vielen einsamen Nächten, bis sie schließlich so krank wird, dass sie sich trennen muss, um zu überleben.

Dann gibt es lebenshungrige Singles, die eine Erfahrung nach der anderen in die Perlenkette ihres Liebesreigens einfädeln. Sie sind zufrieden, nach jedem – wie auch immer gearteten Einlassen – wieder loszulassen. Mehr noch, sie scheuen sogar alles, was nach Bindung riecht und schmeckt, und suchen rechtzeitig das Weite. Andere Singles suchen angeblich eine feste Beziehung, doch sie wählen zielsicher immer eine Person aus, die dazu nicht geeignet ist und beklagen sich als Opfer der Umstände. In Aufstellungsarbeit bei meinen Seminaren sind es diese Menschen, die ihre Beziehungsfähigkeit unter die Lupe nehmen wollen und meist in den Schicksalen längst vergangener Vorfahren fündig werden.

Auch in der Welt der Paare ist längst nicht alles Gold, was bei goldenen und silbernen Hochzeiten zu glänzen scheint: Da traut sich doch Margarethe, die mit einem wunderbaren Mann verheiratet ist, der sie bei jedem Liebesspiel fragt, was und wie sie es möchte, selbst nach dreißig Ehejahren noch nicht, ihm zu zeigen, wie sie zum Orgasmus kommt. Sie weiß es, und bringt es aus Scham einfach nicht über ihre Lippen. Ist das Freiheit? Andere Paare verlieren allmählich ganz ihre Lust und leben wie Bruder und Schwester nebeneinander her oder vergnügen sich außer Haus, am besten heimlich, damit die Partnerin/ der Partner sexuell ja weiter treu bleibt.

Seit Jahren begegne ich in meinen Seminaren in all den Teilnehmer/innen auch den verschiedenen L(i)ebensformen. Frisch verliebt, ist das Glück schnell auszuloten. Die Augen leuchten und der Hafer sticht. Das Herz quillt über und die Säfte auch. Die Herausforderungen oder Wachstumschancen zeigen sich meist erst jenseits der Honeymoon-Zeiten.

In Familienaufstellungen muss ich immer wieder staunen, dass sowohl die vermeintlich gewählte Monogamie als auch das freie Liebesleben keine Blüten der individuellen Freiheit sind, sondern Folgen unbewusster Dynamiken aus den Familiensystemen. So kann ein sexueller Freigeist zum Beispiel überprüfen, ob seine Vorfahren Flüchtlinge waren. Aus einer Art blinder Liebe heraus wird dann unbewusst das Gefühl der Heimatlosigkeit oder der Zerrissenheit in seiner Beziehungsgeschichte inszeniert.
Manchmal gibt es Frühverstorbene, die die rastlose Seele in Serienbeziehungen wiederzufinden hofft. Oder es gibt Beziehungsbeispiele in der familiären Vergangenheit, die mit einem tragischen Schicksal endeten, dem man durch Beziehungslosigkeit zu entkommen sucht. Der Dynamiken, die uns unbewusst steuern und die weit jenseits der persönlichen Entscheidungsfreiheit angesiedelt sind, gibt es viele.

Ich selbst dachte mal, ich hätte mir im Laufe der Jahrzehnte durch fleißige Arbeit an mir selbst wichtige Beziehungskompetenzen erworben, so dass ich jetzt endlich bei meinem zweiten Mann dauerhaft bleiben kann – und das schon über zwanzig Jahre lang. Bis sich herausstellte, dass ich bis in Details das Leben und die zwei Partnerschaften meiner Großmutter wiederholt habe. Auch bei vielen anderen Menschen, die sich dieser systemischen Sichtweise öffnen, zeigen sich solche Verbindungen.

Und was macht man nun damit? Ich würde sagen, in Demut dem zustimmen, was ist und wie es ist und offen sein für alles, was sich zeigen möchte.

Denn alles hat Vorteile und alles hat Nachteile. Und es gibt leider oder Gottlob nicht die eine richtige Alternative. Wichtig ist meiner Meinung nach für alle Beteiligten nur, zu überprüfen, ob sie jeweils so authentisch wie möglich l(i)eben oder sich für jemanden verbiegen und wider besseres Wissen aufopfern – egal ob monogam oder polyamor. Denn wenn es dem eigenen Inneren widerspricht, macht es früher oder später krank – und dann ist der Preis für das aktuelle Liebesleben einfach zu hoch … selbst wenn der Preis aus Liebe zu den Ahnen unbewusst gerne gezahlt wird.

* Namen wurden geändert

 

Text: Regina Heckert

Website: www.befree-tantra.de

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Regina Heckert

Regina Heckert ist 1956 geboren. Sie hat bereits als junge Frau Tantra Rituale entwickelt und zelebriert, später dann auch Tantra im Außen gefunden und bei vielen Lehrern „studiert“. Ihre tantrische Arbeit wird ergänzt, erweitert, vertieft und bereichert durch die Anbindung an alte tantrische Texte und Überlieferungen, zeitgemäße spirituelle Weisheit und Lehren, sowie die Aufstellungsarbeit nach Bert Hellinger.

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4 thoughts on “Wie frei sind wir im L(i)eben?

  • 27. April 2017 um 23:26
    Permalink

    das ist ja mal eine spannende Erweiterung dieses Themas; die Erfahrungen aus dem Familienstellen finde ich sehr bemerkenswert…ich kenne inzwischen viele Menschen, die die Polyamorie eine Zeit lang für den wahren Weg gehalten haben, danac h doch wieder zu einer verbindlichen Partnerschaft zurückgekommen sind, in der die Liebe offen sein darf, die Sexualität jedoch dem Partner vorbehalten wird…so habe ich und meine Partnerin es auch erlebt und gerade lese ich dazu das spannende Buch von Gerd Bodhi Ziegler: Wer liebt hat alles…darin finde ich mich in vielen Passagen selber wieder:-))

    Antworten
    • 4. Mai 2017 um 7:11
      Permalink

      Lieber Johannes,
      allein über die Zusammenhänge aus dem Familienstellen, zum Beispiel auch zur (unbewussten) Partnerwahl, könnte ich inzwischen Bücher schreiben. Ja, es ist sehr spannend, herauszufinden, was uns und unser Liebesleben steuert und lenkt. Manchmal ergibt sich dann wirklich so etwas wie eine freie Wahl.
      Dir und Deiner Partnerin wünsche ich von Herzen alles Gute auf Eurem Weg der Selbsterkenntnis und der Liebe!
      Regina

      Antworten
  • 1. Mai 2017 um 14:19
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    Liebe Regina, das hast Du schön geschrieben:
    Wichtig ist … zu überprüfen, ob [ich] … so authentisch wie möglich l(i)ebe oder [mich] für jemanden verbiege und wider besseres Wissen aufopfere – egal ob monogam oder polyamor. Denn wenn es dem eigenen Inneren widerspricht, macht es früher oder später krank …
    Genau das hab‘ ich auch beobachtet, 30 Jahre Beziehung und immer noch schöne Überraschungen im Innen und Außen.

    Antworten
    • 4. Mai 2017 um 7:16
      Permalink

      Lieber Ferdi,
      viele Überraschungen halten uns wach und die Beziehung lebendig. Für mich ist die offene Kommunikation und die Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander, auch mit den Gedanken und Gefühlen eine Art Hilfe für ein gutes Wachstum miteinander und ein reines Beziehungskonto. Das ist nicht immer einfach. „Die Wahrheit reguliert alles zum Wohle von allen“, ist ein Lieblingssatz von mir. Das beinhaltet oft erstmals heftige Erschütterungen. Doch langfristig führt die Wahrheit zu einem glücklichen Ausgang für den, der sich ihr ganz und gar hingibt. Das ist zumindest meine Erfahrung.
      Herzliche tantrische Grüße
      Regina

      Antworten

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