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Gelegenheit schafft Liebe

Verführt Tantra zu Polyamorie?

Mit wem wir uns wie paaren, mit wem wir Sexualität und Liebe leben oder unseren Alltag teilen, ist eine der entscheidenden Frage für unser Lebensgefühl. Zum Glück darf heutzutage jeder diese Frage für sich selbst beantworten … im Prinzip.

  • Doch erstens ist es nicht leicht, eigene Wünsche mit denen anderer in Übereinstimmung zu bringen.
  • Und zweitens werden unsere individuellen Paarungs-Bedürfnisse nicht selten von Ideologien überlagert, die wenig Spielraum für individuelle Lösungen lassen. Sobald wir gewisse Konventionen verlassen, wird unser Liebesleben misstrauisch beäugt.

Das Thema Polyamorie ist derzeit in aller Munde und wird zunehmend auch vom Mainstream aufgegriffen. Doch die Skepsis ist oft groß und das romantisch-monogame Ideal noch immer unangefochtener Marktführer unter den Beziehungsidealen. Auch wenn die meisten Menschen in Tat und Wahrheit etwas anderes leben.

 

Ausbrechen aus monogamen Konventionen?

Schon lange vor diesem Trend galt Tantra als Hort sexueller Freizügigkeit, in dem die Halbwertszeit monogamer Treueversprechen schmilzt wie Schnee in der Frühlingssonne. Das ist natürlich ein Klischee: es gibt Tantraschulen, die explizit sexuelle Exklusivität empfehlen. Doch so ganz aus der Luft gegriffen ist das Klischee nicht, denn aus der Sicht des Tantra ist alles mit allem verbunden. Potenziell können wir jeden Menschen lieben oder sogar mit jedem Sex haben (können, nicht müssen!). Lust und Liebe gibt es im Überfluss, wenn wir uns nur dafür öffnen. Tantra kann für diese Wahrnehmung sensibilisieren.

Doch es bleibt auch im Tantra stets unsere Wahl, was wir mit wem wie intim leben (es sei denn, wir besuchen einen dieser Workshops, in dem wir diese Freiheit mit der Anmeldung an die Seminarleitung abtreten). Wann immer wir bereit sind, können wir die Verantwortung für unser Liebesleben zu uns nehmen. Wir müssen sie weder unseren Genen, unseren steinzeitlichen Vorfahren, unseren Eltern, unseren Partnern, der Gesellschaft im Allgemeinen noch dem Tantralehrer im Besonderen überlassen.

Doch warum brechen viele Menschen, nachdem sie mit Tantra in Berührung gekommen sind, aus monogamen Konventionen aus und leben ein bunteres Liebesleben? Muss doch was mit Tantra zu tun haben, oder? Ich finde das nicht schwer zu erklären. In unserer Gesellschaft herrscht tendenziell ein Mangel an guten Gelegenheiten für erotische und/oder herzliche Kontaktaufnahme. In den meisten sozialen Kontexten gelten erotische Annäherungsversuche als unpassend oder gar als Belästigung oder Übergriff.

In Tantrakursen ist das anders: es gibt mehr als genug gute (aber auch dort manche schlechte) Gelegenheiten. Tantrakurse bringen so verdrängte Wünsche an die Oberfläche. Das wird leider oft fehlinterpretiert, so als ginge es im Tantra primär um Kontaktanbahnung bzw. um das freie Ausleben erotischer Impulse. Primär nicht, aber sekundär wäre auch nicht unbedingt zu verachten. Oder doch?

Solange ein Mangel an Lust und Liebe vorherrscht, wird Partnerschaft und insbesondere Partnerwahl zur Mangelverwaltung. Was man liebt und begehrt, versucht man für sich zu gewinnen und rechtzeitig ins Trockene zu bringen; was man hat, mit einem Zaun abzusichern – zumindest solange, bis sich ein besseres Angebot auf dem Liebesmarkt findet. Wir können versuchen, uns derart unromantischen Marktgesetzen zu entziehen, können andere Werte höher ansiedeln als das beste Preis/Leistungsverhältnis zu ergattern. Aber viel attraktiver wäre es doch, den Mangel in Überfluss zu verwandeln.

 

Lust und Liebe im Überfluss

Auch im Land des Überflusses wartet die eine oder andere Herausforderung. Wie würden wir Lust und Liebe dosieren, wenn wir genug davon bekommen können? Können wir uns überhaupt für mehr als das Gewohnte öffnen? Wie sähen unsere Beziehungen und Kontakte aus, wenn wir jederzeit gute Gelegenheiten hätten, erotische Kontakte zu knüpfen und/oder uns von Herz zu Herz zu verbinden? Würden wir wahllos mit jedem und jeder …?

Wohl kaum, das würde uns komplett überfordern. Wahrscheinlich würden wir aber weniger verbissene Energie darauf verwenden, unsere Geliebten in rechtmäßigen Besitz zu überführen. Wie würden wir das Ausmaß an Liebe und Sex steuern? Welche Begegnungen und Beziehungen würden wir eingehen? Welche inneren Hindernisse gäbe es zu bearbeiten, wenn äußere wegfallen? Gäbe es immer noch gute Gründe für exklusive Zweisamkeit? Und wäre „Fremdgehen“ dann noch ein Trennungsgrund? Nicht zuletzt: Wie könnten wir die Tiefe unserer menschlichen Bindungen bewusst gestalten oder würden wir zu autistischen Sexaholics?

Bindung gibt Geborgenheit und schafft Kontinuität. Sie ist ohne eine Begrenzung unserer Freiheit nicht zu haben und unterscheidet sich dadurch von Verbundenheit als einer Qualität des reinen Hier und Jetzt. In unseren Bindungsmustern wiederholen wir meistens Mangelerfahrungen und daraus resultierende Strategien aus unserer Kindheit. Doch in einem Land, wo Lust und Liebe im Überfluss zu genießen sind, machen alte Bindungsmuster keinen Sinn. Es ist nicht immer leicht, aber wir können lernen sie loszulassen. Doch wirklich neue sind noch kaum in Sicht.

 

Die Vielfalt leben

Tantra scheint mir durch seine (hoffentlich!) fehlende Dogmatik und seine sexpositive Haltung ein geeigneter Kontext zu sein, um relevante und wegweisende Fragen zu unserer Liebeskultur zu stellen. Wenn wir die innere und äußere Freiheit dazu hätten und genügend Gelegenheit: Wie würden wir unser Liebesleben gestalten? Was würde uns in ungehemmter Kreativität noch so alles einfallen? Würde alles immer noch extremer? Was wären organische Grenzen, die wir ohne moralischen Druck gerne und freiwillig respektieren?

Unsere Lebens- und Liebesentwürfe wären wahrscheinlich so vielfältig, wie Menschen eben sind, wenn man sie nur lässt. Mono, poly, solo … oder gar multiversal-anarchistisch? Ideologische Debatten halte ich für entbehrlich. Ich wäre einfach für liebevoll und sexy.

Im Tantra haben sich schon viele Menschen dafür geöffnet und sei es auch nur als erwünschte Nebenwirkung ausreichender Gelegenheit.

 

Text: Saleem Matthias Riek

Website: www.schule-des-seins.de

Gelegenheit schafft Liebe
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Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist 1959 geboren, Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge, Buchautor und lebt bei Freiburg im Breisgau. Seit 1986 erfolgreiche therapeutische Arbeit mit Einzelnen und Gruppen, seit 1992 mit den Schwerpunkten Liebe, Erotik, Paarbeziehung und Tantra, seit dem Jahr 2000 auch in der Ausbildung von Gruppenleitern tätig. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Weitere Bücher, darunter ein Roman, sind in Vorbereitung.

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6 thoughts on “Gelegenheit schafft Liebe

  • 28. April 2017 um 7:50
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    Hallo Saleem
    Guter Artikel – danke! Mir gefäll insbesondere der Gedanke nicht vom Mangel sondern vom Überfluss auszugehen und sich dann frei zu überlegen, wie das Liebes- und Sexleben ausehen würde und wo die ’natürlichen‘ Grenzen wären.

    Antworten
  • 28. April 2017 um 11:09
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    Hallo Saleem und hallo Felix!
    Ja, vom Überfluß auszugehen statt vom Magel war einer der größten Veränderungen in meiner Struktur. Zum ersten Mal konnte ich das im SdS Festival 2013 erfahren (die überwältigende Antwort der Teilnehmer mit deren Spendenaktion). Das bewirkte es bei mir. Ich brauche entsprechend stark gefühlte Erfahrungen und nicht eine Änderung der Gedanken durch irgendwelche Therapieformen. Da bin ich resistent. Daher halte ich mich praktisch nur dort auf, wo Lehrer offene Räume anbieten. So kann „von oben runter“ was auch immer mich treffen. (Existenz macht das eh von sich aus). Das verstärkt sich auch als innere Haltung (Bereitschaft) außerhalb von Seminaren, etc im Leben. Ich weiß nicht, ob man sowas gezielt herbei führen könnte. Manchmal wünsche ich das Menschen still, wenn ich sie hungrig sehe und ich kennen meinen eigenen Mangel nur zu gut. Es ist echt viel für mich, den Hunger auszuhalten im Gewahrsein eines richtig appetitlichen Anblicks. Nicht immer gelingt das. Das Tier in mir ist mächtig und doch sehnt es sich auch danach, dass ich es besänftige weil ich sein Meister bin.
    Aloha aus Karlsruhe
    Stefan

    Antworten
  • 28. April 2017 um 22:30
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    Hallo Saleem,

    vielen Dank für die vielfältigen Anregungen zur Reflexion!

    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es Menschen gibt, bei denen ich sofort eine Anziehung spüre, wo „die Chemie“ stimmt, die irgendetwas bei mir triggern. Oft sind diese Menschen vom anderen Geschlecht (in meinem Fall Männer) und wenn ich in einer festen Beziehung war, dann war es oft nicht möglich, dem, was da passierte, nachzugehen und es mir genauer anzuschauen. Ich konnte mich höchstens noch heimlich mit diesem Mann treffen, um herauszufinden, was es mit dieser Anziehung tatsächlich auf sich hatte. Und meistens landeten wir dann im Bett, weil wir keine anderen Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Art von Energie, die sich zwischen uns aufbaute, hatten.

    Im Tantra lernte ich, zu differenzieren. Nicht jede Anziehung muss eine sexuelle sein, auch nicht zwischen Mann und Frau. Innehalten, spüren, atmen, dableiben, mich in das Aufgewühlt-Sein hinein entspannen. Was ist es wirklich? Was löst dieser Mann in mir aus? Ist es Verliebtheit? Ist es ein Machtspiel? Projiziere ich auf ihn? Ist es einfach ein Bedürfnis nach Begegnung und Berührung?

    Polyamory geht noch einen Schritt weiter. Ich kann – ohne Heimlichkeit und mit dem „Segen“ meines Partners – herausfinden, was ich mit diesem anderen Mann, der mich so anzieht, leben will. Alle Beteiligten können offen darüber reden, was bei jedem einzelnen da ist an Wünschen, Sehnsüchten und Herausforderungen. Es darf sich entwickeln was sowieso schon angelegt ist (oder es stellt sich bald heraus, dass es eine Illusion war).

    „Polyamory ist ein sehr anspruchsvolles Beziehungsmodell, das von den beteiligten Beziehungspersonen einen hohen Reifegrad, große Kommunikationsfähigkeit, emotionale Stärke, viel Toleranz und große Flexibilität erfordert,“ schreibt Prof. Herbert Csef in einem Artikel im Journal für Psychologie. Das macht es für mich so interessant.

    Und ich glaube, dass Polyamorie eine immense gesellschaftliche Sprengkraft hat. Sie kratzt an einem der letzten Heiligtümer unserer Kultur, dem Ideal der romantischen Zweierbeziehung. Dahinter versteckt sich oftmals die verschwiegene Realität der heimlichen Doppelleben, langjährigen Affären und schmerzlich erahnten Geliebten. Wenn all diese Heimlichkeiten und Versteck-Spiele mit einem Schlag wegfallen würden, könnte ein ungeahntes Potential für Liebe und Kommunikation frei werden. Es würde wohl nicht unbedingt leichter werden, aber auf jeden Fall ehrlicher und authentischer.

    Antworten
    • 29. April 2017 um 8:15
      Permalink

      Danke, Brigitte, das finde ich sehr inspirierend, was du da schreibst! Ich wünsche mir immer mehr Menschen, die den Mut zu dieser Art Ehrlichkeit aufbringen.

      Antworten
    • 7. Mai 2017 um 21:21
      Permalink

      Liebe Brigitte
      Dir besten Dank für deine offenen Worte. Ehrlicher und authentischer ist der Schlüssel zum liebevollen zusammen Leben.

      Antworten
  • 29. April 2017 um 14:05
    Permalink

    Hallo Saleem
    auch ich finde gerade diesen Gedanken sich zu erlauben, dass es sein könnte, dass wir nicht mehr im Mangel leben eine ganz wunderbar „neue“ Idee. Denn das ist auch ein Teil gewesen, warum ich innerhalb meiner Beziehung eine von den „Bewacherinnen“ war und warum ich eine solche Trauer hatte, als sie letztes Jahr nach so vielen Jahren gerade auch wunderbarer Erotik, Sinnlichkeit und Sexualität zu Ende ging.
    Die Panik, nie wieder jemanden zu finden, mit dem ich es so gut haben kann. Und was ich aber über Tantra entdeckt habe und immer mehr entdecke ist, dass es viel mehr Menschen, Männer gibt, die sich ähnliche Dinge wie ich wünschen und von denen ich auch wunderschöne Erlebnisse geschenkt bekomme.
    Und damit tritt mehr und mehr Ruhe ein, dass ich auch nicht unbedingt gleich wieder eine klassische Beziehung haben muss, nur weil mir all die Körperlichkeit und Sinnlichkeit so wichtig ist.
    Und ja, seit ich wieder schaue gibt es auf einmal so viele Türen, durch die ich gehen kann, so viele interessante Männer, mit denen ich mich treffen kann und so viel Möglichkeit heraus zu finden, was ich eigentlich wirklich leben möchte. Und ja, ich erlebe auf einmal Überfluss statt Mangel, fast schon ein zuviel statt eines zuwenig.
    Und es ist für mich eine unglaubliche Bereicherung, die Vielfalt an Möglichkeiten denken und ausprobieren zu dürfen, weil es mehr und mehr verschiedene Beziehungsmodelle innerhalb unserer Gesellschaft gibt.
    Und ja, ich finde, da ist Tantra auch ein Weg, sich mehr und mehr damit auseinander zu setzen und erstmal fühlen zu können, für wie viele Menschen, Männer wie Frauen ich in einem bestimmten Setting auf einmal tiefe Gefühle entwickeln kann und was das dann für mein Leben, für meinen Alltag bedeutet

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